Ich armer Mensch, ich Sündenknecht

BWV 055 // zum 22. Sonntag nach Trinitatis

für Tenor, Vokalensemble, Traverso, Oboe d‘amore, Streicher und Basso continuo

Der unbekannte Librettist knüpft an die Sonntagslesung, Matthäus 18, 23–35, an. Auf die Frage des Petrus, wie oft man dem Nächsten verzeihen müsse, erzählt Jesus das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht, dem der König eine riesige Schuld erlassen hatte und der anschliessend seinen Mitknecht wegen einer Kleinigkeit drangsalierte, statt aufgrund der erfahrenen Vergebung selber auch zur Vergebung bereit zu sein.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 55

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Tenor
Bernhard Berchtold

Chor

Sopran
Guro Hjemli

Alt/Altus
Antonia Frey

Bass
William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Yuko Ishikawa

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe d’amore
Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein

Orgel
Rudolf Lutz

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Urs Schoettli

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
18.11.2011

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1-4
unbekannter Autor

Textdichter Nr. 5
Johannes Rist, 1642

Erste Aufführung
22. Sonntag nach Trinitatis,
17. November 1726

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate «Ich armer Mensch, ich Sünden­knecht» BWV 55 gehört zu Bachs relativ we­nigen Solokantaten. Nicht zufällig entstammt sie dem Jahr 1726, in dem Bach stärker zu be­setzungsmässigen Experimenten neigte, wo­ bei ihn die poetischen Libretti des jüngst als Textdichter identifizierten Leipziger Theolo­giestudenten und späteren Nürnberger Pfar­rers Christoph Birkmann offenbar besonders zu inspirieren vermochten. Der zwischen Konzeptnotation und Quasireinschrift changie­rende Charakter der Originalpartitur legt dabei nahe, dass Bach nur die ersten beiden Sätze neu komponierte und für die Nummern 3 und 4 sowie eventuell auch den Schlusschoral auf eine ältere Parodievorlage zurückgriff. 

Die Eingangsarie macht wirkungsvoll Ge­ brauch von der exquisiten Instrumentation mit einem Holzbläserduo aus Traversflöte und Oboe d’amore sowie einem Violinpaar ohne Bratschenstütze, die ihre Rollen be­ständig austauschen und mit denen Bach so­wohl eine fragile Eleganz als auch eine be­sondere Luftigkeit des Satzes erreicht. Die Singstimme exponiert dabei weniger einen heroischen Ton als eine angespannte Linien­führung, die einer noblen Zerknirschung ent­spricht. Die vom Libretto vorgesehene Wie­derholung der Eingangsdevise «Ich armer Mensch, ich Sündenknecht» als Schlusszeile einer zweiteiligen Arienanlage motivierte Bach zu einer modifizierten Reprisenform mit ausgedehntem Nachspiel. 

Einer gegen das eigene schuldhafte Tun gerichteten Anklage gleicht das Rezitativ Nummer 2; die an einen reumütigen Petrus erinnernden Fluchtvisionen und Selbstbeschul­digungen («Scheusal») des Solisten sprechen nicht gerade gegen Andreas Glöckners Ver­mutung einer Beziehung einzelner Kanta­tensätze zu einer wohl verschollenen Wei­marer Passion von 1717. 

Einem solchen Werk tatsächlich gut anstehen würde die folgende «Erbarme dich»­Arie, deren kleinteilig schweifende Flötenstimme der vor allem von der lakoni­schen Bassstimme geprägten Kargheit des d­-Moll­Triosatzes nur begrenzt Energie zufüh­ren kann. Chromatische Färbungen und permanente Abwärtszüge verstärken den reumütigen Charakter dieser Arie, die wie ein Gebet in grösster Verlassenheit wirkt. 

Das folgende Accompagnato mit Strei­cherbegleitung greift zwar das «Erbarme dich» der Vorarie auf, findet jedoch Trost im verdienstlichen Leiden des Gottessohns, dank dessen auch der Gläubige dem Gericht ent­gehen und den Gnadenweg beschreiten kann. Dass der Betende dabei in aller Reue des schmerzlichen Opfertodes Jesu eingedenk bleiben sollte, macht die bis auf den gelösten Schluss durchgängig geschärfte Streicherbe­gleitung hörbar. Kaum eine Liedstrophe könnte zu diesem Seelenzustand besser passen als Johann Rists von Bach unnachahmlich zart harmonisierte Zeilen «Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein». Dass gerade diese Strophe auch in der Mat­thäuspassion an prominenter Stelle figuriert, unterstreicht die Passionsanklänge dieser in der Satzkompilation und Motivbildung durch­aus eigenwilligen Kantate. 

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Arie

Ich armer Mensch, ich Sündenknecht,
ich geh vor Gottes Angesichte
mit Furcht und Zittern zum Gerichte.
Er ist gerecht, ich ungerecht,
ich armer Mensch, ich Sündenknecht!

1. Arie
Die Kantate beginnt mit einem Schuldbekenntnis, erinnernd an das Jesuswort: «Jeder, der Sünde tut, ist der Sünde Knecht» (Johannes 8, 34). Wir haben eine Solokantate vor uns, bis auf den Schlusschoral bestreitet ein einziger Sänger, der Tenor, alle Sätze. Zwei Holzbläser, Querflöte und Oboe d’amore, unterstützen ihn nebst den Streichern und der im Barock unerlässlichen Bassgruppe. Der «Sündenknecht», der sich von seiner Last zu befreien sucht, ist in dieser Arie gebunden in ein dichtes instrumentales Stimmengeflecht. In der Gestaltung der Singstimme zieht Bach von der Exclamatio über verminderte Akkordbrechungen bis hin zur Chromatik alle Register der musikalischen Rhetorik des Barock.

2. Rezitativ

Ich habe wider Gott gehandelt
und bin demselben Pfad,
den er mir vorgeschrieben hat,
nicht nachgewandelt.
Wohin? Soll ich der Morgenröte Flügel
zu meiner Flucht erkiesen,
die mich zum letzten Meere wiesen,
so wird mich doch die Hand des Allerhöchsten finden
und mir die Sündenrute binden.
Ach ja!
wenn gleich die Höll ein Bette
vor mich und meine Sünden hätte,
so wäre doch der Grimm des Höchsten da.
Die Erde schützt mich nicht,
sie droht, mich Scheusal zu verschlingen;
und will ich mich zum Himmel schwingen,
da wohnet Gott, der mir das Urteil spricht.

2. Rezitativ
Hier folgt die Begründung für die Bezeichnung «Sündenknecht». Die Aussichtslosigkeit, der Verantwortung vor Gott zu entfliehen, wird mit Worten aus dem 139. Psalm geschildert: «Wohin soll ich gehen deinem Geiste? Wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Stiege ich hinauf zum Himmel, du bist dort; schlüge ich mein Lager auf im Totenreich, sieh, du bist da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und liesse mich nieder am äussersten Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen.»

3. Arie*

Erbarme dich,
laß die Tränen dich erweichen,
laß sie dir zu Herzen reichen,
erbarme dich!
Erbarme dich,
laß um Jesu Christi willen
deinen Zorn des Eifers stillen,
erbarme dich!
*Jüngere Fassung der Originalpartitur

3. Arie
Auf das Schuldbekenntnis folgt die flehentliche Bitte um Erbarmen, dargestellt in der melodischen Geste der Traversflöte, die dann von der Stingstimme aufgegriffen wird. Hiob klagte noch: «Gott hält seinen Zorn nicht zurück» (9,13); möge nun «um Jesu Christi willen» sein Zorn doch gestillt werden.

4. Rezitativ*

Erbarme dich!
Jedoch nun tröst ich mich,
ich will nicht für Gerichte stehen
und lieber vor dem Gnadenthron
zu meinem frommen Vater gehen.
Ich halt ihm seinen Sohn,
sein Leiden, sein Erlösen für,
wie er für meine Schuld
bezahlet und genung getan,
und bitt ihn um Geduld,
hinfüro will ich’s nicht mehr tun.
So nimmt mich Gott zu Gnaden wieder an.
*Jüngere Fassung

4. Rezitativ
Das folgende Selbstgespräch reflektiert in dichten Sätzen die ganze Erlösungstheologie: Der sündige Mensch muss sich nicht selber rechtfertigen, sondern darf sich an den gnädigen Gott, den Vater, wenden und sich auf den Sohn Jesus Christus berufen, der mit seinem Kreuzestod Genugtuung geleistet hat. Aus Dankbarkeit wird er in der Folge sich an die Gebote halten; er weiss sich von Gott angenommen. Bach kleidet diese inhaltsschwere Textaussage in einen haltgebenden Streichersatz.

5. Choral

Bin ich gleich von dir gewichen,
stell ich mich doch wieder ein;
hat uns doch dein Sohn verglichen
durch sein Angst und Todespein.
Ich verleugne nicht die Schuld,
aber deine Gnad und Huld
ist viel größer als die Sünde,
die ich stets bei mir befinde.

5. Coral
Die Strophe aus dem Abendlied «Werde munter, mein Gemüte» von Johannes Rist fasst die Gedanken der Kantate sehr treffend zusammen mit dem Hinweis auf die Versöhnungstat Christi und die Gnade Gottes.

Reflexion

Urs Schoettli

«Asiens Religionen kennen keine Ursünde»

Die Kantate «Ich armer Mensch, ich Sündenknecht» im kulturellen Vergleich.

«Sündenknecht», «Furcht und Zittern zum Gerichte», «Sündenrute», «Hölle», «Zorn», «Schuld» und «Sünde» noch und noch – dies sind die Begriffe, die aus dem Text, welcher der Kantate «ich armer Mensch, ich Sündenknecht» zugrunde liegt, herausragen. Kein erfreulicher Hintergrund für ein Stück musikalischer Erbauung zum 22. Sonntag nach Trinitatis.
Wir haben den Kantatentext im letzten Frühsommer auf eine Reise nach Varanasi mitgenommen und im schattigen Park der Banaras Hindu University gelesen. Nach Sarnath vor den Toren von Benares, dem Wildpark, in welchem Siddhartha Gautama nach der Erleuchtung zum ersten Mal das Dharma predigte, zu den Ghats entlang des Ganges und zu einem nächtlichen hinduistischen Feuerritual begleiteten uns die Worte, aus denen wir, letztlich erfolglos, Sinn für die Con­ ditio humana zu gewinnen trachteten.
Wir haben im Laufe der Jahre, von Mekka abgesehen, alle heiligen Stätten dieser Erde besucht – von den Pyramiden in Tikkal bis zum Heiligen Schrein von Ise in Japan. Varanasi, das wie Jericho für sich beansprucht, die älteste ständig bewohnte Siedlung der Menschheit zu sein, hat uns den Umgang mit dem Tode gelehrt. Hier gibt es keine Verdrängung des Schicksals, auf welches wir alle unweigerlich zusteuern. Wie die Toten am Ghat rund um die Uhr angeliefert werden, rasch und ohne grösseres Zeremoniell auf Holzstössen kremiert werden und die Kremationsstätten von den Arbeitern mit mechanischen Verrichtungen für die nächste Leiche zubereitet werden, so muss es in Zeiten der Pest in Europa zugegangen sein. Varanasi verheimlicht nichts und belässt der Finalität des Schicksals eines jeden Erdenbewohners nicht den kleinsten Zweifel. Und dennoch, es ist gerade Varanasi, das uns mit dem Tode versöhnt und ihn aus den Fängen von Hölle, Schuld und Sünden befreit.
Die Tradition will es, dass in der Familie, in welche ich hineingeheiratet habe, die Übergabe der Asche in Haridwar unweit von Rishikesh am Oberlauf des Ganges stattfindet. Das Abschiednehmen gehört zu unseren alltäglichen Erfahrungen und, wie sehr wir es auch zu verdrängen suchen, es steht uns allen bevor, auch das Abschiednehmen vom Liebsten und Teuersten. im Gedächtnis bleiben die Übergabe der Asche in den Fluss zu den Mantren des Priesters und danach das Entschwinden der letzten Blumen auf den quirligen Wassern des hier noch jugendlich unbändigen Ganges. Nichts bleibt – alles verfliesst!

Rückkehr zur Weltgeltung
Wer die wahrhaft tristen Nachrichten verfolgt, die in diesen Wochen und Monaten das Bild Europas in der Weltöffentlichkeit prägen, kommt nicht darum herum, sich der Frage zu stellen, was denn mit dem alten Kontinent fehlgelaufen ist. Offensichtlich ist Asien, sind insbesondere die beiden Hochkulturen Indien und China mit grosser Dynamik dabei, ihre Weltgeltung, die sie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein besessen hatten, wieder zurückzuerlangen. Die Europäer werden dadurch nolens volens gezwungen, ihren liebgewonnenen Eurozentrismus abzulegen, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kultur, nicht nur im Handel und Wandel, sondern auch im Denken.
Die Zeiten, da Weltgeschichte im Wesentlichen Europageschichte war, sind endgültig vorbei. Selbst der geliebte Jacob Burckhardt kann heute nicht mehr die Geltung beanspruchen, die er noch vor einem halben Menschenalter besessen hatte. Es ist nicht nur höchste Zeit, sondern auch ein grosser Gewinn, wenn wir Europäer eher früher denn später die Schwellen des Eurozentrismus übersteigen und uns mit dem asiatischen Denken, mit den asiatischen Kulturen und Religionen befassen. Ich meine dies nicht im kultischen Sinne – wir müssen nicht auf einen Yogatrip oder ein Taichiregime abfahren. Viel eher hilft es, für ein paar Momente innezuwerden, weshalb wir eigentlich glauben, was wir glauben und weshalb und mit welchen Gründen andere Kulturen andere Glaubensinhalte haben.
Der Kantatentext macht eines klar – letztlich geht es beim Glauben um nichts anderes, als mit dem Unvermeidlichen zurande zu kommen, dass unser und unserer Lieben Leben endlich ist. Dabei braucht es viel Mut, sich mit der Tatsache abzufinden, dass wenn die letzte Stunde schlägt, alles Irdische, wie viel wir davon auch besessen haben mögen und wie sehr wir auch an ihm hängen, verloren ist. Daran ändern auch die abstruseste Dogmatik und die kunstvollste Scholastik nichts. Wahrscheinlich haben Jesus und Mohammed dies auch gewusst, aber ihren Gefolgsleuten mit dem Leben nach dem Tode und dem Paradies ein wohlfeiles Palliativ hinterlassen.
Da ist der grosse Weise – und nicht Religionsgründer! – Konfuzius schon ehrlicher. Sein Grab, ein Rasenhügel mit einer simplen Stele im Friedhof der Familie Kong in Qifu in der ostchinesischen Provinz Schandong, hat eine klare Botschaft: «Hier endet alles!» Diese Botschaft ist von weitreichender zivilisatorischer Bedeutung und hat China über mehr als zweieinhalb Jahrtausende geprägt. Der Pragmatismus der Chinesen, den wir während der letzten drei Jahrzehnte bei der Umsetzung der weitreichenden Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen haben erkennen können, ist eine Folge der Tatsache, dass es für den Konfuzianismus keine Metaphysik, keine Spekulation über das Nachher gibt. In diesem Leben muss man es zu etwas bringen, eine spätere Korrektur gibt es nicht!

Die Einfachheit des Denkspruchs
«Sündenknecht», «Schuld» und «Hölle» – wir kennen solche Worte weder aus dem Hinduismus, noch aus dem Buddhismus, weder aus dem Taoismus, noch aus dem Schintoismus. In jeder Religion will sich die Priesterkaste über das gemeine Volk erheben, dies gehört sozusagen zum Berufsbild. im Hinduismus murmeln Priester unverständliche Worte in Sanskrit, die Gläubigen murmeln mit und verstehen noch weniger vom ganzen Brimborium. im Buddhismus gibt es aufwendige Todesriten, die in Japan ein ganzes Vermögen kosten können und den buddhistischen Orden einen saftigen Cashflow bescheren. im Schintoismus kann man jeweils am Neujahr die Liste der Jahrgänge konsultieren, die im neuen Jahr mit Schwierigkeiten zu rechnen haben.
Die Botschaft ist klar: Spende ein kleineres oder grösseres Ritual und du kannst das Ungemach abwenden.
«Pecunia non olet!» ist sicher nicht das Einzige, was die Katholische Kirche vom Römischen Reich übernommen hat, aber wohl das Einträglichste, wie der ganze Ablass- und Devotionalienhandel sowie das einträgliche Pilgergeschäft demonstrieren. Auch religiöse Institutionen können ohne Mammon nicht überleben. immerhin gibt es in den asiatischen Religionen keine Kirchensteuer. Man bezahlt im Tempel, im Schrein für die Dienstleistung, die man beansprucht.
Die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel erinnert an das indische Kastendenken. Hier rangieren die Händler weit unter den Brahmanen, gar noch hinter den Kriegern. Und dennoch, es sind die Händler, die Kaufleute, Unternehmer, Banker, die das Leben auf dieser Erde zumindest in materiellem Sinne erträglicher gestalten – und dies ist ja, seien wir ehrlich, nicht wenig! Dagegen steht, dass der Krieger zerstört und plündert, und der Brahmane, der Priester vom Mehrwert der Volkswirtschaft lebt.
Warum also diese Ambivalenz zum Reichtum, zum materiellen Wohlergehen, welche im Christentum einen so grossen Einfluss hat? Geld, Konsum, sinnliches Vergnügen rücken so leicht in die Nachbarschaft von Sünde, Vergehen, Verfallensein, Verruchtheit! Da passen uns die asiatischen Religionen schon besser in den Kram, ganz zu schweigen von der Weisheitslehre des Konfuzius, die im berühmten Denkspruch des grossen chinesischen Reformers Deng Xiaoping, «reich zu werden, ist wunderbar», ihr modernes Mantra erhalten hat. Wir wissen, warum Deng diesen Wahlspruch seinen Landsleuten mitgegeben hat: Während vier Jahrzehnten hatte Mao Zedong gepredigt, «arm zu sein ist wunderbar», und damit sein Volk ins Steinzeitalter zurückverbannt. In einem solchermassen zerstörten Lande musste man erst einmal die Menschen aus den verqueren ideologischen Fesseln befreien.
Natürlich, wir wissen alle, dass Reichtum, Wohlstand und physisches Wohlbehagen allein nicht glücklich machen – das Menetekel der Krankheit, des Todes steht ja stets an der Wand! Und gegenüber dem Tod ist auch das bestausgestattete Bankkonto wirkungslos. Aber sind wir doch ehrlich – ohne Reichtum, ohne Wohlstand, ohne physisches Wohlbehagen ist das Leben eine sehr kümmerliche, eine sehr triste Sache. Selbstkasteiung, Armut als Vorbereitung auf den unerbittlich nahenden Tod? Warum auch, dieser nimmt einem ja zeitig weg, was man auf Erden mit seinen Sinnen geniessen kann. Verschieben wir, als gewöhnliche Sterbliche, also die Austerität auf die Zeit nach dem Eintritt in die Ewigkeit und widmen wir uns in den paar Jährchen, die noch bleiben, auch dem Genuss.

Religion – eine menschliche Schöpfung
Die Predigt von Varanasi, die Buddha im Wildpark von Sarnath nahe von Varanasi gehalten hat, gilt als das massgebliche Wort zum Weg, der zum Dharma, zu den Bausteinen der Realität oder, nach den Worten des deutschen Indologen und Religionswissenschaftlers Helmuth von Glasenapp, zu den «Daseinsfaktoren» führen soll. Die Predigt ist das Kernstück der buddhistischen Ethik und umfasst auf knappstem Raum die wichtigsten Lehren des Buddhismus.
Mit heiligen Texten ist es in allen Religionen so, dass sie reichlich Raum für Interpretation belassen. Dies bedingt natürlich auch, dass sie sich für allerlei Zwecke missbrauchen lassen. Schliesslich spielt sich Religion nicht jenseits von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ab. Sie kann der Rechtfertigung von Macht ebenso wie der Rechtfertigung von Verfolgung von Häretikern und Andersgläubigen dienen. Sie ist ja letztlich, so sehr ihre Protagonisten sie ins Reich des Göttlichen erhöhen wollen, eine menschliche Schöpfung und damit anfällig für alle Fehler, aber auch alle Stärken, die wir Menschen haben.
Wir wissen – ganz besonders nach dem tragischen, blutigen 20. Jahrhundert, dass Extremismen nichts als Not und Leiden bescheren. Wenn etwas das Überleben unserer Gattung bedroht, so ist es der Hang zum Fanatismus, der auch und vor allem durch Religionen genährt wird und der sich nicht selten der Apokalypse bedient. Wenn ich bedenke, was mir «Sündenknecht» in diesem Kantatentext so alles vorgeworfen und gedroht wird, so muss mir in der Tat angst und bange werden. Nichts kann mich retten, als mich vorbehaltlos dem Diktat des allein selig machenden Christentums zu unterwerfen.
Diesem allem steht der wohltemperierte Ton der Predigt von Varanasi entgegen. Mässigung, der Mittelweg sollte das Mass aller Dinge sein. Und dies befindet sich genau im Visier der Predigt von Varanasi. Natürlich hat Buddha erkannt, dass Leiden und Schmerz das Resultat von Entzug sind und dass, so die klassische Logik des Erleuchteten, Leiden und Schmerz dadurch reduziert werden können, dass man möglichst viel in diesem Leben fahren lässt. Wer keine Anhänglichkeiten mehr hat, weder an sich selbst noch an seine Umwelt, der befindet sich auf dem Weg ins Nirwana, in den Zustand der vollständigen Bedürfnislosigkeit und damit auch der Freiheit vom Leiden. im metaphysischen Sinne, der hier aber auch einen sehr stark nihilistischen Anklang hat, wird diese vollständige Selbstenthebung mit der Ewigkeit gleichgesetzt. Kein Paradies, keine Hölle lockt beziehungsweise droht nach dem Tode. Der Buddhismus ist auf indischem Boden gewachsen und hat in Indien selbst für ein paar Jahrhunderte den Hinduismus verdrängt, bevor dieser vor beinahe tausend Jahren machtvoll zurückgekommen ist. Heute bekennt sich im Mutterland des Buddhismus nur noch eine äusserst kleine Minderheit zum Buddhismus. Das einzige mehrheitliche buddhistische Land in Südasien ist Sri Lanka.
Der Ursprung in Indien bedingt, dass der Buddhismus Elemente der Wiedergeburtslehre vom Hinduismus übernommen hat. im hinduistischen Verständnis vom Karma, vom Schicksal, welches das Leben des einzelnen Menschen prägt und dem er sich nicht entziehen kann, wohnt der Wiedergeburt ein Element der Bestrafung beziehungsweise Belohnung bei, die man mit den christlichen Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und himmlischem Paradies vergleichen kann. Wer in der Misere lebt, so die hinduistische Lehre, hat dieses erbärmliche Schicksal wohl Fehltaten in seinem früheren Leben zuzuschreiben, für die er in seiner neuen Existenz zu bezahlen hat.
Dem Buddhismus ist dieses Verständnis fremd. Es gibt keine eigentliche individuell geprägte Wiedergeburt. Die Fortdauer derjenigen, die nicht das Nirwana erreicht haben, erfolgt in einer anonymisierten Form. Materie und Seele setzen sich in einer von der Person losgelösten Weise fort. Somit entfällt natürlich auch das Element der Bestrafung, das sich im Hinduismus findet. Ziel ist, das Leiden, das jeden Menschen, auch den Prinzen Siddhartha Gautama, befällt, zu minimieren. Nach buddhistischer Lehre ist das Leiden das Resultat, dass man sich an Dinge und Menschen klammert, von denen man unweigerlich durch den Tod getrennt wird. Wer sich von solchen Bindungen loslöst, mindert sein Leiden und kann im Idealfall ins leidenslose und damit auch bindungslose Nirwana eintreten. Wir liegen nicht falsch, wenn wir in diesem Loslösen eine Form des Nihilismus sehen, wie er letztlich auch der Naturreligion des Schintoismus eignet.
Am Rande sei vermerkt, dass der Buddhismus seine im indischen Kontext vermerkte Anpassungsfähigkeit an lokale Werte und Religionsvorstellungen auch in China erfolgreich appliziert hat. Wir denken an die Übernahme der Ahnenverehrung, die im Reich der Mitte Teil der konfuzianischen Ethik ist, aber letztlich weit in die Urzeiten zurückweist, lange vor der Zeit, da im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Buddhismus aus Indien nach China kam.

Bedauern statt Verurteilung
«Sündenrute», «Furcht und Zittern» vor dem Gericht – all dies fehlt im Buddhismus. Es gibt kein Jüngstes Gericht und wer dem Wohlleben, dem Materiellen, den Sinnen, der Anhänglichkeit an Dingen und Menschen verfallen ist, begeht keine Sünde, sondern begeht, so es ihm ein existenzielles Bedürfnis sein sollte, sein Leiden auf Erden zu reduzieren, schlicht einen Fehler. Der Buddhismus verurteilt ihn wegen dieses Fehlers nicht, sondern bedauert ihn schlicht und einfach.
In diesem Kontext ist die Betonung des mittleren Weges in der Predigt von Varanasi von besonderer Bedeutung. Der Buddha sagt: «Weder die Abstinenz von Fisch und Fleisch (will heissen die Verletzung des buddhistischen Gebots, lebende Wesen nicht zu töten, Anmerkung des Autors) noch nackt zu gehen (Bedürfnislosigkeit) noch das Haupthaar zu scheren (Züchtigkeit der Mönche und Nonnen) (…) noch das Tragen von rauer Kleidung (Kasteiung) (…) noch das Opfern zu Agni (Gott des Feuers) reinigen einen Menschen, der nicht vom Selbstbetrug (Illusionen über das Wesen der menschlichen Existenz) befreit ist.»
Buddha sagt zum Mittelweg: «Die Bedürfnisse des Lebens zu befrie­digen, ist nicht von Übel. Den Körper in einem guten Gesundheitszustand zu halten, ist eine Pflicht (…) ansonsten wir unseren Geist nicht stark und klar bewahren können (mens sana in corpore sano)». Der Mittelweg führt zwischen «overindulgence» und Selbstkasteiung hindurch: «Mit seinem Leiden sorgt der ausgehungerte Gläubige nur für Verwirrung und krankhafte Gedanken. Kasteiung befördert die innerweltliche Weisheit nicht, und noch weniger führt sie zu einem Sieg über die Sinne.»
Nochmals: Die Predigt von Varanasi ist kein Aufruf zur Abstinenz vom Leben im Diesseits, keine Anleitung, wie man durch Selbstzerstörung ins Paradies gelangen kann. Ganz im Gegenteil. Noch und noch betont Buddha den Wert des mittleren Wegs, des Masshaltens, der Absage an Extremes und Absolutes. Die «noble Wahrheit» zur Überwindung von Trauer und Schmerzen lautet: «richtige Ansichten, richtige Aspirationen, richtige Rede, richtiges Benehmen, richtige Lebenshaltung, richtige Anstrengungen, richtige Gedanken und richtige Kontemplation.» Dies ist der achtfache Pfad.
Was richtig ist, wird nicht durch den Zwang einer Dogmatik, einer rechtschaffenen Lehre, einer Ideologie bestimmt. Die Suche nach dem Richtigen obliegt dem einzelnen Menschen. Er kann allenfalls Präzepte des Buddhas, aber durchaus auch aus anderen Ethiken für seine Erbauung zu Hilfe nehmen. Den Weg dazu muss er aber schon selbst finden und kann beziehungsweise muss sich nicht an geweihte Priester, Gurus oder anderes mehr halten. Nichts entbindet den Menschen, der sich auf den Weg der Suche nach dem Richtigen begeben hat, von dieser Pflicht. Selbstverantwortung, nicht Unterordnung unter ein Karma, unter einen Gott, sei er strafend oder liebend, ist die Maxime des Buddha. Versuchen wir unter diesem Aspekt einmal die Erbsünde, die Sündhaftigkeit des Menschen zu erklären! Das Verweigern von Selbstverantwortung, die Abkehr vom richtigen Pfad, dies alles sind keine Sünden, sondern schlicht Fehler, Versäumnisse, die ich zu meinem eigenen Schaden begehe, indem ich dadurch eben nicht mein Leiden, das in der Trennung von allem Liebgewordenen besteht, zu reduzieren vermag. Bedenken wir im Lichte der Predigt von Varanasi, die den Eingang ins Nirwana, in die vollständige Auslöschung alles irdischen und die daraus resultierende Befreiung im Tode preist, das dunkle Monstrum des im Kantatentext mitschwingenden Worts vom «Tod als der Sünde Sold» (Römer 6, 23).
«Furcht und Zittern zum Gerichte», «Hölle», «Zorn», «Schuld» und «Sünde» – all diesen geballten Drohungen steht im Buddhismus schlicht die Anleitung zur vielleicht möglichen eigenverantwortlichen Überwindung des irdischen Leidens, das aus dem Verlust, der Trennung entsteht, entgegen – nichts mehr, aber auch nichts weniger!

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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