Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet
BWV 057 // zum 2. Weihnachtstag
für Sopran und Bass, Alt und Tenor aus dem Vokalensemble, Oboe I+II, Oboe da caccia, Streicher und Continuo
Die Kantate «Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet» (BWV 57) ist von Bach mit guten Gründen mit «Concerto in Dialogo» überschrieben worden, handelt es sich doch erneut um ein dramatisches Gespräch zwischen Jesus und der gläubigen Seele – doch unter zunächst völlig veränderten Vorzeichen.
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Werkeinführung
Reflexion
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Plamena Nikitassova, Monika Baer, Christine Baumann, Sylvia Gmür, Martin Korrodi
Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Maike Buhrow, Thomas Meraner
Oboe da caccia
Ingo Müller
Fagott
Susann Landert
Orgel
Norbert Zeilberger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Annemarie Pieper
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
17.12.2010
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1
Zitat aus Jokobus 1, 12
Textdichter Nr. 2-7
Christian Lehms, 1711
Textdichter Nr. 8
Ahasverus Fritsch, 1668
Erste Aufführung
2. Weihnachtstag,
26. Dezember 1725
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Das in der Eingangsarie mittels schmerzlicher Tonfolgen, seufzender Gesten und lastender Harmonien in Erinnerung gerufene Leiden des Stephanus – des ersten christlichen Märtyrers überhaupt – erweist sich als Rahmen für eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung über das gottgefällige Leben und Sterben in dieser Welt.
Wurden in der Kantate «Wachet auf» zwischen Sopran und Bass zarte Liebesbande geknüpft, so geht es hier um die existentielle Bedrängnis des menschlichen Herzens, die sich in der Arie «Ich wünschte mir den Tod, wenn du, mein Jesu, mich nicht liebtest» auf bewegende Weise Bahn bricht. Extreme Abwärtssprünge, abreissende Gesangsphrasen und eine geschärfte Klanglichkeit sorgen für eine beklemmende Atmosphäre der Verlassenheit, die buchstäblich in höchster Not durch Jesu rettenden Zuspruch aufgebrochen wird (Rezitativ «Ich reiche dir die Hand»).
Wie in einer barocken Oper vollzieht sich der emotionale Umschlag plötzlich und heftig: In der kämpferischen Arie «Ja, ja, ich kann die Feinde schlagen» demonstriert ein sporenklirrender Christus seine Fähigkeit, wie für den sterbenden Stephanus auch für den bedrängten Menschengeist mit Macht den Himmel zu öffnen und alle «Kummerwolken» beiseite zu schieben. Damit ist der tote Punkt überwunden und aus der einmaligen Epiphanie erwachsen Trost und innere Umkehr – in einem intensiven Rezitativ antwortet die Seele auf die in Ewigkeit geltende Zusage Jesu mit einer sehnsüchtigen Vision des eigenen Sterbens und des folgenden Aufstiegs ins paradies. Die anschliessende Arie «Ich ende behende mein irdisches Leben» entwickelt sich dabei zu einem der erstaunlichsten Beispiele barocker Weltabwendung. Begleitet von einer wirbelnden Violinstimme und einem nur mehr flüchtigen Continuo scheint sich die gläubige Seele immer mehr in Todessehnsucht und Diesseitsverachtung hineinzusteigern («mein Heiland, ich sterbe mit höchster Begier»). Dem extremen Affektzustand trägt Bach Rechnung, indem er die Arie in ungewöhnlicher Weise mit einer Frage enden lässt: «Hier hast du die Seele, was schenkest du mir?»
Die Antwort darauf gibt nun zwar wiederum Jesus, doch nicht in einem weiteren Solo, sondern im Medium des Chorals. Text und Musik dieses schlichten, mit seinen Durchgängen jedoch zugleich exquisiten Liedsatzes verweisen somit zurück auf Kirche und Glaubenspraxis als den Ort jener tagtäglichen «Bewährung», von der zu Beginn der Kantate die Rede war. Dass die Bassführung der letzten Choralzeile («aus dem gemarterten Leibe») der inhaltlich verwandten Passage («denn nachdem er bewähret») in den Takten 48/49 der Eingangsarie entspricht, ist von daher gewiss kein Zufall. Der Weg zum Himmel führt in dieser Kantate sichtbar und hörbar über Kreuz und immer wieder auch Erniedrigung.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Der zweite Weihnachtstag ist zugleich der Stephanustag. Die Kantate wurde im Frühgottesdienst in der Thomaskirche zu Leipzig aufgeführt mit einer Predigt zum Tagesevangelium Matthäus 23, 34 –39 und im Vespergottesdienst in der Nikolaikirche mit einer Predigt zur Tagesepistel aus der Apostelgeschichte, welche vom Märtyrertod des Stephanus berichtet. Der Text der Kantate ist als Dialog zwischen Christus und der Seele gestaltet.
Anima (Sopran)
Jesus (Bass)
1. Arie (Bass)
Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet;
denn nachdem er bewähret ist,
wird er die Krone des Lebens empfahen.
1. Arie
Die Seligpreisung durch den Sopran drückt Bach in wundervoll, weit ausschwingen Melodielinien aus. Das mit «Krone» übersetzte Wort heisst eigentlich Siegeskranz, griechisch stephanos, worin man eine Anspielung auf den Glaubenszeugen Stephanus sehen konnte.
2. Rezitativ (Sopran)
Ach! dieser süsse Trost
erquickt auch mir mein Herz,
das sonst in Ach und Schmerz
sein ewigs Leiden findet,
und sich als wie ein Wurm in seinem Blute windet.
Ich muss als wie ein Schaf
bei tausend rauhen Wölfen leben;
ich bin ein recht verlassnes Lamm,
und muss mich ihrer Wut
und Grausamkeit ergeben.
Was Abeln dort betraf,
erpresset mir auch diese Tränenflut.
Ach! Jesu, wüsst ich hier
nicht Trost von dir,
so müsste Mut und Herze brechen
und voller Trauren sprechen:
2. Rezitativ
Jesus hat seinen Jüngern gesagt, er sende sie «wie Schafe mitten unter die Wölfe» (Matthäus 10, 16). Abel, der von seinem Bruder Kain erschlagen worden war, wird im Tagesevangelium erwähnt; er galt als erster Märtyrer des alten Bundes und Stephanus als jener des neuen Bundes.
3. Arie (Sopran)
Ich wünschte mir den Tod,
wenn du, mein Jesu, mich nicht liebtest.
Ja, wenn du mich annoch betrübtest,
so hätt ich mehr als Höllennot.
3. Arie
Die Seele drückt in Bedingungssätzen aus, was sie glaubt: Weil du, Jesus, mich liebst, habe ich keinen Todeswunsch und keine Höllenangst. Der Gegensatz von Tod und Leben wird durch zwei ausdrucksmässig höchst gegensätzliche Motive abgebildet, sie tauchen erstmals im Streichersatz auf und prägen dann die entsprechende Schlüsselworte im Gesang. Die Überfülle an Seufzermotiven und die harmonisch-melodische Expressivität lassen an Bachs Passionen denken.
4. Rezitativ (Sopran, Bass)
Jesus:
Ich reiche dir die Hand
und auch damit das Herze.
Anima:
Ach! süsses Liebespfand,
du kannst die Feinde stürzen
und ihren Grimm verkürzen.
4. Rezitativ
Wie dem sinkenden Petrus reicht Christus dem Glaubenden die Hand (Matthäus 14, 31). Er kann die Zeit der Drangsal und Verfolgung verkürzen (Matthäus 24,22). Bass und Sopran verkörpern in diesem kurzen Dialog Jesus und die Seele (ebenso in Rezitativ Nr.6).
5. Arie (Bass)
Ja, ja, ich kann die Feinde schlagen,
die dich nur stets bei mir verklagen,
drum fasse dich, bedrängter Geist.
Bedrängter Geist, hör auf zu weinen,
die Sonne wird noch helle scheinen,
die dir itzt Kummerwolken weist.
5. Arie
Mit Zitaten aus Psalm 3, 8 und Tobias 3, 23 lässt die Arie Jesus verkündigen, dass diese Hoffnung nicht vergeblich ist und in einem strahlenden B-Dur mit auf- und absteigenden Dreiklangsbrechungen wird Christus als Sieger über seine Feinde gepriesen.
6. Rezitativ (Sopran, Bass)
Jesus:
In meiner Schoss liegt Ruh und Leben,
dies will ich dir einst ewig geben.
Anima:
Ach! Jesu, wär ich schon bei dir,
ach striche mir der Wind schon über Gruft und Grab,
so könnt ich alle Not besiegen.
Wohl denen, die im Sarge liegen
und auf den Schall der Engel hoffen!
Ach! Jesu, mache mir doch nur,
wie Stephano, den Himmel offen!
Mein Herz ist schon bereit,
zu dir hinaufzusteigen.
Komm, komm, vergnügte Zeit!
du magst mir Gruft und Grab,
und meinen Jesum zeigen.
6. Rezitativ
Jesus verheisst Ruhe und ewiges Leben, und die glaubende Seele wünscht, dass sie doch schon bald durch die Posaune der Engel aus dem Grabe gerufen würde und wie Stephanus den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes sehen könnte (Apostelgeschichte 7, 55).
7. Arie (Sopran)
Ich ende behende mein irdisches Leben,
mit Freuden zu scheiden verlang ich itzt eben.
Mein Heiland, ich sterbe mit höchster Begier,
hier hast du die Seele, was schenkest du mir?
7. Arie
Diese Sehnsucht kommt auch hier zum Ausdruck. Der Tod bringt die ersehnte Vereinigung mit Jesus (Philipperbrief 1, 23). Die Seele lässt sich glücklich in Jesu Arme fallen, so zeichnen jedenfalls schon die eröffnenden Takte der Solovioline das ersehnte Ende. Im zweiten Teil der Arie steigert sich die Todessehnsucht noch («ich sterbe mit höchster Begier») und schliesst mit der Frage: «Was schenkest du mir?». Die Antwort darauf gibt der abschliessende Choral.
8. Choral
Richte dich, Liebste, nach meinem Gefallen und gläube,
dass ich dein Seelenfreund immer und ewig verbleibe,
der dich ergötzt
und in den Himmel versetzt
aus dem gemarterten Leibe.
8. Choral
Als Schlusschoral hatte Lehms eine Strophe aus dem Lied «Gott Lob, die Stund ist kommen» von Johann Heermann (1632) vorgesehen. Bach ersetzte sich durch eine den Dialog fortführende Strophe aus dem Lied «Hast du denn, Jesu, dein Angesicht gänzlich verborgen» von Ahasverus Fritsch, welches ebenfalls als «Seelengespräch mit Christo» konzipiert ist.
Annemarie Pieper
«Wenn sich Seele und Körper auf Augenhöhe begegnen»
Das Paradies auf Erden statt Trost in unerreichbarer ewiger Seligkeit.
Ich lese den Text der Kantate «Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet» als Drama in fünf Akten, das mit einem Prolog eröffnet wird und mit einem Epilog schliesst. Als Sprecher treten auf: die Seele und Jesus. Im Verlauf des Dramas schöpft die am Sinn des Lebens verzweifelnde Seele zunehmend Trost aus dem christlichen Glauben, bis sie am Ende ihr Heil und damit ihr Glück findet: in der Liebe zu Jesus, der als Heiland zum Bindeglied zwischen Mensch und Gott wird.
Gehen wir die acht Textabschnitte der Kantate im Einzelnen durch. Der 1. Abschnitt eröffnet das Drama mit dem Prolog. «Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; / denn nachdem er bewähret ist, / wird er die Krone des Lebens empfahen.» Das Glück, die Seligkeit, nach der Menschen verlangen, ist kein Zufallsresultat, das jemandem unverhofft in den Schoss fällt, weil Göttin Fortuna just über ihm ihr Füllhorn entleert hat, ohne Verdienst und Ansehen der Person. Das Glück verdankt sich auch nicht einer Aktivität, einer Eigenleistung, wie sie das Sprichwort signalisiert: Jeder ist seines Glückes Schmied.
«Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet.» Dieses Glück kommt aus einer passiven Haltung, einem Leiden. Und das Leiden hängt mit einer Anfechtung zusammen. Das Wort «Anfechtung» ist aus dem alltäglichen Sprachgebrauch verschwunden. Statt das ficht mich nicht an sagen wir heute das lässt mich kalt, das kümmert mich nicht oder salopp, das kratzt mich nicht. Doch mit «Anfechtung» ist mehr als ein ungefährlicher Fechthieb gemeint, der nur eine harmlose Schramme hinterlässt. Die Anfechtung, von der im Text die Rede ist, meint eine Verletzung, die so tief ist, dass sie alles infrage stellt, was man je für richtig und gut gehalten hat. Sie provoziert einen totalen Sinnverlust. Der radikale existenzielle Zweifel entwertet das Leben.
Die Anfechtung zieht einem Menschen den Boden unter den Füssen weg: wie Hiob, dem alles genommen wurde; wie Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern sollte. Wie kann man sich als derart Angefochtener bewähren? Nicht: indem man sich zum Kampf rüstet und zurückschlägt, sondern durch geduldiges Ertragen der ungeheuerlichen Zumutung. Gott, von dem die Anfechtung ausgeht, ist als Gegner zu mächtig, ihn kann man nicht besiegen. Sich bewähren heisst: sich trotz aller Verzweiflung über das von Gott verfügte Schicksal als zuverlässiger, treuer Anhänger Gottes zu erweisen. Der feste Glaube, dass dieser Gott einem letztendlich nichts Unerträgliches zumutet, macht geduldig und zuversichtlich, sodass der Sinnzweifel verstummt. Die Anspielung auf den Propheten Stephanus (von griechisch «stephanos» = bekränzt), der für seinen unerschütterlichen Glauben gesteinigt wurde, zeigt, dass ein Mensch sogar den Tod besiegen kann, wenn er der Anfechtung standhält. Ausgezeichnet wird er mit dem Lorbeerkranz, der Krone ewigen Lebens.
Der 2. Abschnitt führt in den ersten Akt des Dramas. Ein Mensch, der sich wie Stephanus in einer ausweglosen Situation wähnt, beschreibt wehklagend seine existenzielle Not. Gezwungen, wie ein «Schaf» unter «Wölfen» zu leben, ständig in der Furcht, das Schicksal Abels teilen zu müssen, beschreibt das Ich seinen Seelenzustand: Es fühlt sich einsam und verlassen, schutzlos der Grausamkeit der Mitmenschen ausgesetzt. Wie schmerzhaft dieses Leben ist, signalisiert der Vergleich mit einem zertretenen «Wurm», der sich «in seinem Blute windet». Das Blut, ein Sinnbild für das Leben, pulsiert nicht mehr im Körper, sondern ist daraus ausgeflossen. In Todeszuckungen wälzt er sich in seinem eigenen Blut, nur noch am Leben gehalten durch den Gedanken an Jesus, der das Herz weiterschlagen lässt. Ohne Jesus als Vorbild, dessen Leiden am Kreuz den Weg weist für die Überwindung der Todesfurcht, fehlte der Mut zum Überleben. Das Leben wäre trostlos, erfüllt von übergrosser Trauer, die sich in einer «Tränenflut» äussert angesichts der Unmöglichkeit, dem Unglück des irdischen Daseins aus eigener Kraft etwas entgegenzusetzen.
Im zweiten Akt des Dramas (3. und 4. Abschnitt) bekommt Jesus, der im ersten Akt nur angesprochen wurde, ohne dass er selbst zu Wort gekommen wäre, eine eigene Stimme, die dem suizidgefährdeten Ich Rettung aus seiner Not verspricht. Das verzagte Ich fleht um Liebe. Sollte Jesus sich von ihm abwenden, wäre die Enttäuschung schlimmer als alle Höllenpein. Denn dann wäre das Ich endgültig verloren. Es gäbe nichts mehr, woran es sich halten und worauf es sich stützen kann. Aber Jesus versichert ihm, dass es auf seine Liebe und Unterstützung zählen darf. Das Ich versteht dies so, dass Jesus die Macht besitzt, die Feinde des Ich in Schach zu halten und es damit vor deren Attacken zu schützen.
Der dritte Akt (5. Abschnitt) bringt die Wende, die Peripetie des Dramas. Jesus bestätigt dem Ich, dass er dessen verleumderische Feinde zu besiegen vermag. Sodann richtet er einen Appell an das Ich, sich zu fassen und seine verzweifelte Situation in einem neuen Licht zu sehen: «Bedrängter Geist, hör auf zu weinen.» Die Wende besteht darin, dass dem Ich nahegelegt wird, seine eigenen Fähigkeiten zu überdenken und an seiner Erlösung mitzuwirken, anstatt zu erwarten, dass eine höhere Macht gleichsam wie durch Zauberei mit einem Schlag alles zum Besseren wenden wird. Zwar kann das Ich darauf vertrauen, dass Jesus ihm helfen wird, mit seiner schwierigen Lage fertigzuwerden, aber handeln muss es selbst, seine Zweifel am Sinn des Daseins überwinden, indem es sich an Jesus als Vorbild orientiert.
Im vierten Akt (6. Abschnitt) versichert Jesus dem Ich noch einmal, dass in seinem Schoss «Ruh und Leben» liegen: Er ist die Quelle jener Seelenruhe, die der Stoiker Seneca als «tranquillitas animi» bezeichnet hat, als Gelassenheit gegenüber den Wechselfällen des Lebens. Die Verheissung eines ewigen, von Raum-Zeit-Bedingungen unabhängigen Lebens reisst das Ich dazu hin, sich sehnsüchtig den Tod zu wünschen; nun nicht mehr wie im ersten Akt, um seinem unerträglichen Dasein ein Ende zu setzen, sondern um wie Stephanus in den Himmel zu gelangen. Der Himmel als Gegenort zur Erde steht für die friedliche Gemeinschaft mit den Engeln und Gott, in der keiner mehr des anderen Wolf ist, weil alle durch Liebe miteinander verbunden sind. Was den meisten Menschen Angst macht: die Vorstellung, tot im Sarg zu liegen, aller irdischen Genüsse für immer beraubt, bereitet dem Ich geradezu Vergnügen, weil es in der Vorfreude auf das jenseitige Glück alle Qualen des Erdendaseins vergisst und den Tod glühend begehrt, weil sich mit ihm das Tor zum eigentlichen Leben öffnet.
Der fünfte Akt (7. Abschnitt) enthält das Finale. Das jubelnde Ich würde am liebsten auf der Stelle sterben, um seine Seele Jesus zu überantworten, auch wenn es nicht weiss, welche Gegenleistung es dafür erwarten darf. Sicher ist jedoch, dass es sein Heil, seine Glückseligkeit in der göttlichen Liebe finden wird. In seiner Ungeduld und dem ungestümen Wunsch, möglichst sofort das Leben hinter sich zu lassen, entgeht ihm, dass Jesus mehrmals versucht hat, seinen Überschwang zu bremsen. Solange es lebt, muss es sich im Diesseits bewähren. Da es sich jedoch von Jesus angenommen fühlt und auf sein Versprechen bauen kann, «einst» auf Dauer mit ihm verbunden zu sein, wird es mit dieser tröstlichen Aussicht das hiesige Leben besser durchstehen — bis an sein Ende. Das Drama schliesst mit einem Epilog (8. Abschnitt), in dem das Ich noch einmal ausdrücklich bestätigt bekommt, dass es in Jesus einen seelischen Verbündeten hat, sofern es in bedingungsloser Hingabe an ihn glaubt. Glauben heisst: Jesus als Gott zu lieben, der alles vermag. Er wird die vom Körper befreite Seele an einen Ort führen, an dem sie selig ist, unbeschwert durch physische Beeinträchtigungen und psychisch belastende Anfechtungen.
Meinen Versuch, das Drama der menschlichen Existenz aus christlicher Perspektive möglichst textnah zu deuten, möchte ich ergänzen durch eine philosophische Lesart. Der Dialog zwischen dem Ich und Jesus lässt sich auch als ein Selbstgespräch des Ich interpretieren, in dessen Verlauf die Seele über den Körper triumphiert. Das Leib-Seele-Problem hat die Philosophen seit je beschäftigt. Die Pythagoräer bezeichneten den Leib als Gefängnis der Seele, das sie erst nach dem Tod verlassen können. Platon verwendete das Bild der Höhle, um den Aufenthaltsort der Seele in der finsteren Abgeschlossenheit des Leibesinneren zu schildern. Die «Wölfe», von denen die Seele angefallen wird, sind die unkontrollierten Triebe und Begierden, deren Drang nach Befriedigung die geistigen Bedürfnisse der Seele erstickt.
In einem Körper leben zu müssen, ist das grösste Unglück, das einem mit geistig-seelischen Interessen ausgestatteten Lebewesen widerfahren kann. Der Dichter Sophokles hatte deshalb behauptet, das Beste sei: gar nicht erst geboren zu werden; das Zweitbeste: jung zu sterben. Sokrates vertrat die These, man müsse sich sein Leben lang ins Sterben einüben, also hier schon damit beginnen, sich vom Körper zu lösen, indem man die materiellen Begehrlichkeiten so weit wie möglich zurückdrängt und sich voll auf die Interessen der Seele konzentriert.
Dass die Seele in einem Körper steckt, der sie mit seiner Erdenschwere an den Boden fesselt und daran hindert, zum Himmel emporzusteigen, um auf den Inseln der Seligen ihren Frieden zu finden, wurde als Folge einer Selbstverfehlung gedeutet. Indem die Seele dem unersättlichen Verlangen nach materieller Erfüllung nachgab, vernachlässigte sie ihre geistigen Aufgaben. Zur Strafe wurde sie in einen Körper verbannt, mit der Aufforderung, diesen beherrschen zu lernen. Anstatt jedoch die Schuld bei sich zu suchen, machte die Seele den Körper zum Sündenbock, den sie gnadenlos büssen lässt für ihre missliche Lage. So haben sich die Rollen verkehrt: Die Seele ist zum Wolf geworden, die ihre Wut am Körper abreagiert. Doch die Schmerzen des zum Feind erklärten Körpers wirken sich auch auf die Seele aus, die in und mit diesem Körper leben muss. Aus dieser inneren Zerrissenheit gibt es philosophisch nur zwei Auswege. Der eine gleicht der christlichen Lösung: Die Seele hält das Leben aus, darauf hoffend, dass sie aufgrund ihrer Unsterblichkeit dem vergänglichen Körper überlegen ist. Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass sie nach dem Tod frei sein wird und ohne Schuld, wenn es ihr gelingt, Askese zu üben und das sinnliche Begehren weitgehend zu beschneiden, sodass ihr genügend Spielraum bleibt für die Erforschung ihrer eigenen geistigen Gebilde und Idealkonstrukte.
Der andere Ausweg aus der dualistischen Gespaltenheit des Menschen sieht eine Aufwertung des Körpers vor, sodass Leib und Seele sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Friedrich Nietzsche gehörte zu den Philosophen, die der Körperfeindlichkeit und Leibverachtung der abendländisch-christlichen Metaphysik den Kampf angesagt und sich für die Gleichberechtigung von Leib und Seele, Körper und Geist starkgemacht haben. Trost findet die Seele nicht erst nach dem Tod des Körpers in einem fernen Jenseits, sondern hier und jetzt in einer gerechten Abwägung zwischen leiblichen und geistigen Ansprüchen. «Du hast wilde Hunde in deinem Keller», lass sie frei, rät Nietzsche. Dann wird auch die Seele frei sein; frei von ihrer Rolle als Gefangenenwärter und frei zu einem auf kluger Beratung basierenden Umgang mit dem Körper, der als nicht mehr diffamierter Partner an den versinnlichten Glücksentwürfen der Seele Gefallen findet.
In beiden philosophischen Kontroversen über das Leib-Seele-Drama ist es die Stimme der Vernunft, die den Jesus-Part aus dem christlichen Modell übernimmt: einerseits die reine Vernunft, die sich zum Anwalt der Seele macht und die Anfechtung des Körpers mit stoischer Gelassenheit erträgt; andererseits die von Nietzsche so genannte grosse Vernunft des Leibes, die sich weder seelisch noch körperlich anfechten lässt, sondern dafür sorgt, dass die Kontrahenten, anstatt sich physisch und psychisch zu zerfleischen, dazu gebracht werden, sich auf eine ihnen angemessene Weise an der Gestaltung und Umsetzung des individuellen Lebensentwurfs zu beteiligen. Wahre Lebenskunst besteht darin, die unterschiedlichen Interessen von Kopf, Herz, Hand und Bauch so aufeinander abzustimmen, dass sie solidarisch, jeder Teil auf seine Weise – rational, emotional, manuell und affektiv – das Ihre zur Lebensfreude eines gesunden Organismus als ihrem gemeinsamen Ziel beitragen.
Das Ich in unserer Kantate erlebt die Welt als ein Jammertal, aus dem es so schnell wie möglich verschwinden möchte. Es sucht sein Glück in einem Paradies, in der Gemeinschaft mit Personen, die das Prinzip der Nächstenliebe beherzigen, das Jesus verkörpert. Wer sich wie Stephanus in einer Extremsituation unmittelbar mit dem Tod konfrontiert sieht, mag sich in der Tat mit dem Gedanken trösten, dass bald alles ausgestanden sein wird und dass das im Diesseits ausgebliebene Glück im Jenseits durch eine ewige Seligkeit kompensiert wird.
Wer jedoch, wie die meisten Menschen, mit alltäglichen Sorgen und Nöten zu kämpfen hat, kann sich nicht einfach davonstehlen in ein privates Paradies, wie es in seiner Vorstellung existiert. Vielmehr haben wir alle als soziale Wesen die Pflicht, uns auf ein gemeinsames Ideal zu verständigen und unsere Kraft dafür einzusetzen, dieses Ideal bereits hier und jetzt so gut wie möglich unter Raum-Zeit-Bedingungen zu verwirklichen. Warum sollte es uns nicht mit vereinten Anstrengungen gelingen, auf der Basis solidarischer zwischenmenschlicher Beziehungen das Jammertal mithilfe des Jesus-Prinzips in ein Paradies hier auf Erden zu verwandeln, anstatt uns mit der Hoffnung auf eine für lebendige Menschen unerreichbare ewige Seligkeit zu vertrösten?
Literatur
• Søren Kierkegaard, Unwissenschaftliche Nachschrift, 2. Teil, Düsseldorf/Köln 1958
• Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA, hg. von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, München/Berlin 1980
• Platon, Politeia, hg. von Otfried Höffe, 2. Aufl., 2005
• Lucius Annaeus Seneca, De tranquillitate animi / Über die Ausgeglichenheit der Seele, übers. und hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 2002