Wer mich liebet, der wird mein Wort halten

BWV 059 // zum 1. Pfingsttag

für Sopran und Bass sowie vierstimmiges Vokalensemble, Tromba I+II, Pauken, Fagott, Streicher und Continuo

Diese Kantate ist die ältere von zwei mit dem gleichen Bibeldictum beginnenden Kompositionen für den ersten Pfingsttag. Bach hat Teile der bereits 1723 komponierten und höchstwahrscheinlich 1724 im Pfingstgottesdienst der Leipziger Universitätskirche St. Pauli erstmals aufgeführten Kantate BWV 59 im Folgejahr 1725 in teils erweiterter Form in seine Kantate «Wer mich liebet, der wird mein Wort halten» BWV 74 übernommen. Das zugrundeliegende Evangelium ist den Abschiedsreden Jesu aus Johannes 14 entnommen: Jesus verheisst seinen Jüngern das Kommen des Heiligen Geistes.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 59

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Joanne Lunn

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Walter Siegel

Bass
Ekkehard Abele

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Renate Steinmann

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Fagott
Susann Landert

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel

Timpani/Pauke
Martin Homann

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Verena Kast

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
25.05.2012

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Komponist 5. Choral
Rudolf Lutz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1
Zitat aus Johannes 14, 23

Textdichter Nr. 2, 4
Erdmann Neumeister (1671-1756)

Textdichter Nr. 3, 5
Martin Luther (1483-1546)

Erste Aufführung
1. Pfingsttag,
28. Mai 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Für die Kantate BWV 59 griff Bach auf ein 1714 in Eisenach und nochmals 1716 in Leipzig gedrucktes Libretto des berühmten Textreformators Erdmann Neumeister zurück, von dessen sieben Sätzen der Komponist jedoch nur vier vertont hat. Damit endet die Kantate in der überlieferten Form mit einer Bassarie mit Solovioline – eine ungewöhnliche Konstellation, die den Choral in die Mitte verschiebt und die daher in den Abschriften des 19. Jahrhunderts stillschweigend korrigiert wurde, um den gewohnt verbindlichen Abschluss herzustellen. Da der Eingangssatz von Bach später für die Kantate BWV 74 umfassend erweitert wurde und sowohl die Datierung (1723 und / oder 1724) als auch die Zweckbestimmung (wahrscheinlich zum Universitätsgottesdienst) ungeklärt sind, wird unserer Kantate oft das Odium des Unvollständigen und Provisorischen beigelegt – was den Genuss dieses so charmanten Stückes aber nicht länger verdunkeln sollte.

Gleich der Eingangssatz mit seinem weichen und freundlichen Pfingstton ist von exquisitem Klangreiz. Dem warm strömenden Streichersatz ist ein kantables Trompetenpaar mit dezent eingesetzten Pauken zugesellt, in das sich die konsonant geführten Singstimmen Sopran und Bass perfekt einfügen. Ausgehend von einem sprechenden Kopfmotiv durchdringen sich alle Satzdimensionen in fliessenden Umschlingungen; mit diesem ebenso eingängigen wie kunstvollen Konzept ruft Bach die liebliche Klangwelt älterer geistlicher Konzerte – etwa seines Vorvorgängers Johann Schelle – in Erinnerung. Dass er dabei hörbar an seinen Weimarer Kantatenstil anknüpft, hat die – quellenmässig nicht belegte – frühere Entstehung zumindest einzelner Sätze vermuten lassen.

Das Sopranrezitativ «O, was sind das für Ehren» beschreibt in feierlichen Tönen und begleitet von einem dunkel timbrierten Streichersatz den Moment, da Jesus die Menschheit mit seiner Gegenwart aus dem Staub erhebt. Neumeisters souverän hoher Ton und seine unverkennbar schauspielmässigen Bilder scheinen Bach zu einer besonders plastischen Vertonung angeregt zu haben, die in einem Arioso kulminiert, das verzückt beschreibt, wie es wäre, wenn wir Sterblichen uns von Gottes unerklärlicher Liebe anstecken lassen würden.

Danach folgt ein Choralsatz, der mit dem Lutherlied «Komm, Heiliger Geist» auf das pfingstliche Geschehen verweist. Während die erste Violine den Sopran verstärkt, dürfen sich Violine II und die von Bach so geschätzte Bratsche innerhalb des vierstimmigen Gerüstes eigenständige Wendungen gönnen.

Wiewohl die Arie «Die Welt mit ihren Königreichen » anfangs von der Vergänglichkeit alles Irdischen redet, wird auch hier klangliche Süsse in einer Weise zelebriert, die an die schönsten Sätze aus Bachs begleiteten Violinsonaten erinnert. In diese tönende Vision der erfüllten Liebe bringt sich die Basspartie sonor ein – wo das Herz zu Gottes Wohnung wird, lässt sich selig wandeln und gar ein Vorausblick auf die himmlische Herrlichkeit wagen. Bachs schlanke Linienführung und seine knapp gehaltenen Sinnabschnitte verkörpern zugleich die Klarheit des pfingstlichen Lichtes wie die der glaubenden Seele gebührende kindliche Einfalt.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der in der originalen Singbassstimme an dieser Stelle notierte Hinweis «Corale segue» doch auf eine anschliessende Liedvertonung bezog und zudem die bisher ins Spiel gebrachten Gründe für die Nichtvertonung der übrigen Sätze des Neumeister-Librettos nicht wirklich befriedigen können, hat Rudolf Lutz diese offene Situation zum Anlass genommen, eine neue Komposition des im Textdruck nachstehenden Chorals «Gott, Heilger Geist, du Tröster wert» vorzulegen. Diese orientiert sich am Arsenal barocker Idiome und Techniken und rundet die Kantate in jenem pragmatischen Geist ab, wie er auch bei einer Neuaufführung durch einen zeitgenössischen Kollegen Bachs selbstverständlich gewesen wäre. Der figurierte Satz greift die elegante Führung der Trompeten und Pauken aus dem Eingangschor auf und behandelt den Choral auf eine motettisch aufgebrochene und ausgesprochen sangliche Weise, die an die durchsichtige Arie anknüpft und dennoch das reichere Gesamtinstrumentarium zur Wirkung bringt. Dabei wird das federnde Kopfmotiv «Gott, Heilger Geist» gemeinsam mit seiner synkopischen Bläserbeantwortung zur den ganzen Satz tragenden Inspirationsquelle.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Arie (Duett Sopran, Bass)

«Wer mich liebet, der wird mein Wort halten,
und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden
zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.»

1. Arie
Die Eingangsarie, ein Duett von Sopran und Alt, zitiert den ersten Satz der Evangelienlesung, Johannes 14, 23. Der Heilige Geist will im Herzen des Menschen wohnen. Das Jesuswort «Wer mich liebet» nimmt Bach als Kernaussage des Satzes, gibt ihr ein prägnantes musikalische Profil und zitiert dieses Motiv zu Beginn jedes Stimmeinsatzes. So akzentuiert und interpretiert Bach den Bibelsatz – diese Kernaussage soll sich jedem Zuhörer einprägen. Trotz der nur zweistimmigen Vokalbesetzung verbreiten die beteiligten Trompeten und Pauken festtäglichen Glanz.

2. Rezitativ (Sopran)

O, was sind das vor Ehren,
worzu uns Jesus setzt?
Der uns so würdig schätzt,
daß er verheißt,
samt Vater und dem heilgen Geist
in unsern Herzen einzukehren.
O, was sind das vor Ehren?
Der Mensch ist Staub,
der Eitelkeit ihr Raub,
der Müh und Arbeit Trauerspiel
und alles Elends Zweck und Ziel.
Wie nun? Der Allerhöchste spricht,
er will in unsern Seelen
die Wohnung sich erwählen.
Ach, was tut Gottes Liebe nicht?
Ach, daß doch, wie er wollte,
ihn auch ein jeder lieben sollte.

2. Rezitativ
Die glaubende Seele preist Gottes unermessliche Liebe, die den vergänglichen und sündigen Menschen würdigt, Wohnung des Heiligen Geistes zu werden. Sie antwortet auf das Jesuswort aus der Lesung mit dem Aufruf, dass doch «ihn auch jeder lieben sollte». Und wiederum ist es zum Schluss des Accompagnato-Rezitativs der «Liebes-Appell», den Bach in einem nachdrücklichen Arioso besonders unterstreicht.

3. Choral

Komm, Heiliger Geist, Herre Gott,
erfüll mit deiner Gnaden Gut
deiner Gläubigen Herz, Mut und Sinn.
Dein brünstig Lieb entzünd in ihn‘n.
O Herr, durch deines Lichtes Glanz
zu dem Glauben versammlet hast
das Volk aus aller Welt Zungen;
das sei dir, Herr, zu Lob gesungen.
Alleluja, Alleluja.

3. Choral
Die Bitte um den Heiligen Geist wird mit der ersten Strophe des Liedes vorgetragen, das Martin Luther nach der Antiphon «Veni Sancte Spiritus» geschaffen hat. Diese Strophe war nach der Reformation als Eröffnung jedes Gottesdienstes vorgesehen.

4. Arie (Bass)

Die Welt mit allen Königreichen,
die Welt mit aller Herrlichkeit,
kann dieser Herrlichkeit nicht gleichen,
womit uns unser Gott erfreut:
daß er in unsern Herzen thronet
und wie in einem Himmel wohnet.
Ach! ach Gott, wie selig sind wir doch,
wie selig werden wir erst noch,
wenn wir nach dieser Zeit der Erden
bei dir im Himmel wohnen werden.

4. Arie
In barocken Worten wird das unvergleichliche Wunder gepriesen, dass Gott in unsern Herzen «thronen» will. Im Himmel wird diese Seligkeit noch wunderbarer sein. Eine konzertierende Vio-line duettiert über einem rhythmisch prägnanten und quasi ostinaten Basso Continuo mit der Bass-Stimme.

5. Choral

Gott, Heiliger Geist, du Tröster wert,
gib dein’m Volk einerlei Sinn auf Erd,
steh bei uns in der letzten Not!
G’leit uns ins Leben aus dem Tod!

5. Choral
Der im Kantatentext hier folgende Choral, ein weiteres Rezitativ und eine Arie sind von Bach nicht mehr vertont worden. Die von Erdmann Neumeister vorgesehene dritte Strophe «Gott Heilger Geist, du Tröster wert» des Lutherliedes «Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort» kann nach Bachs Vertonung dieses Liedes in der Kantate BWV 6 musiziert werden und den Abschluss der Kantate bilden.

Reflexion

Verena Kast

«Sich auf gehobene Emotionen einlassen»

Biblische Texte, wie das Pfingstwunder, sind auch Urgeschichten, die, sieht man vom Glaubenskontext ab, wichtige anthropologische Grundbedürfnisse des Menschen betreffen. Im Text der Kantate «Wer mich liebet, der wird mein Wort halten» schwingt ein Versprechen mit, eine Einladung zur Vorfreude. Man kann sich freuen auf etwas, das das Leben grundlegend verändern kann.

Zunächst aber stehen sich zwei Welten gegenüber. Im Rezitativ wird die Vergänglichkeit des Menschen benannt: der Mensch aus Staub, das menschliche Leben ein Trauerspiel, voll Müh und Arbeit – und dennoch die Verheissung: Gott «will in unsern Seelen die Wohnung sich erwählen» – und das ist der Grund für die Vorfreude.
Was könnte das heissen? Versprochen wird, dass der Heilige Geist Herz, Mut und Sinn der Menschen beleben und eine brennende Liebe in ihnen entzünden wird. Versprochen wird das belebte Herz, das von Geist erfüllte Herz, das inspirierte Herz, ein lebendiges Herz.
Das Herz wurde von Aristoteles als Sitz der Seele gesehen, als das Seelenzentrum. Vom Herzen aus steuerte nach dieser Ansicht die Seele den Körper. Ein zentrales Organ also – und als solches erleben wir es noch heute – nicht nur in der Symbolik, sondern auch körperlich.
Symbolisch gilt das Herz als das Zentrum der Liebe, der Bindung und der Verbundenheit. Wir sind einander von Herzen zugetan, manchmal ein Herz und eine Seele. Verlieren wir die Liebe, bricht uns deshalb auch manchmal das Herz. Man kann das Herz verschenken, es erobern – im Sturm. Aber es gibt auch eine Herzensträgheit, oder gar ein kaltes Herz – und das ist unlebendig, fast wie tot. Mit dem Herzen verbunden sind die Gefühle: Freude, Interesse – so hängen wir mit ganzem Herzen an etwas, aber auch die Trauer, der Schmerz, die Angst, übertragen dann auch Mut, Güte und Verzweiflung. Werden die Gefühle in Verbindung mit dem Herzen genannt, dann sind sie heftig – es geht um Leidenschaft oder um deren Lähmung, die Erstarrung, und es ist zentral und wichtig für unser Leben.
Gefühle stehen in Wechselwirkung mit den anderen Menschen und mit der Welt. Er- fahren wir etwas Schönes, Gutes, dann freuen wir uns aus ganzem Herzen, besonders auch, wenn wir es mit anderen teilen können. Erfahren wir Boshaftigkeit, Leid, sind wir tief getroffen in unserem Herzen – und das kann durchaus zu körperlichen Herzproblemen führen.

Die Erfahrung des gehobenen Gefühls
Das Versprechen in dieser Kantate geht nun aber dahin, dass die gehobenen Emotionen aktiviert werden: Mut, Sinn, brennende Liebe. Nicht um Verletzung geht es in diesem Text – es geht um Hochgefühle und um die damit verbundene Sinnerfahrung, die die Gefühle des Verletztseins ausgleichen oder gar überwinden. Im abschliessenden Choral, in einer etwas veränderten Textfassung (Gardiner), heisst es: «Du heilige Brunst, süsser Trost, nun hilf uns fröhlich und getrost (…) und stärk’ des Fleisches Blödigkeit». «Blödigkeit» hat die Bedeutung im Laufe der Zeit etwas gewandelt. Ursprünglich meint Blödigkeit körperliche Gebrechlichkeit, Schwäche, aber auch Zaghaftigkeit. Diese versprochene Belebung des Herzens soll also die Menschen trösten, ihr Vertrauen ins Leben stärken, so dass sie zuversichtlich leben können, obwohl das Leben immer auch den Tod kennt, und das Leben oft auch mühsam ist.
Es geht um die Erfahrung von gehobenen Gefühlen, die hier versprochen wird: um Freude, Inspiration, Hoffnung. Freude ist die Basis davon. Die Möglichkeit, gehobenen Gefühle erleben zu können, gehört zur menschlichen Grundausstattung, diese Gefühle sind wie alle Emotionen und Gefühle biologisch verankert; im Laufe des Lebens machen wir verschiedene Erfahrungen mit diesen Gefühlen, mit dem Ausdruck dieser Gefühle, und sie werden zur emotionalen Färbung unserer Persönlichkeit. (Ängstliche Menschen, unwirsche Menschen, eher heitere Menschen usw.) Im Zusammenhang mit der Freude können wir eine Biografie unserer Freuden beschreiben. Als Kinder haben wir bestimmte Freuden, die wir hemmungslos ausdrücken; was Freude auslöst, verändert sich zum Teil im Laufe des Lebens. Wir können uns zum Beispiel leicht am die Freuden erinnern, die wir an einem schönen Sommertag erlebt haben. Wir können uns aber auch fragen, was heute Freude auslöst. Aktuell sicher das Hören von Musik. Und dazwischen liegen viele Freuden. Für jedes Lebensalter können wir uns fragen, was uns damals gefreut hat, wir können uns aber auch fragen, worauf wir uns in Zukunft freuen. Was sich im Laufe des Lebens verändert, ist vor allem der Ausdruck der Gefühle: Wir kontrollieren als Erwachsene unsere Gefühle mehr. Können wir den Ausdruck einer wilden Freude mit unserem Selbstbild vereinen, können wir noch hüpfen vor Freude?

Was bewirkt Freude?
Jede Emotion, und jede wahrgenommene Emotion, jedes Gefühl, hat einen Sinn und eine Wirkung. Wenn wir uns freuen, erleben wir das Leben als besser als erwartet, es ist schöner, als vorauszusehen war. Körperlich erleben wir uns als belebt, energetisiert, wir möchten springen, tanzen, singen. Wir fühlen uns in Einklang mit uns, mit den anderen, mit der Welt: wir sind lebendig, haben ein gutes Selbstwertgefühl, ohne dass wir uns darum kümmern müssen – sind deshalb auch grosszügiger als normal, wir sind solidarischer, liebevoller. Wir fühlen uns auch geborgen, in uns, in der Welt. Wir haben mehr Vertrauen in das Leben – weniger Angst. Wir sehen uns und auch die anderen mit freundlicheren Augen an – nicht mit den mäkelnden, krittelnden oder gar verbitterten Augen. Um sich an die Freude auch immer wieder erinnern zu können, müssen wir sie dann wahrnehmen, wenn sie sich ereignet. Dann können wir sie in der Erinnerung immer wieder aufleben lassen. Freude kann ihre grosse Wirkung nur dann entfalten, wenn wir uns Zeit für sie nehmen. Dann ist sie aber in der Erinnerung immer wieder abrufbar und wir können sie im Erzählen auch mit anderen teilen. Freude wird mehr, wenn wir sie mit anderen teilen. Dieses Akualisieren von alten Freuden ist eine wichtige Ressource auch fürs höhere Alter. Es gibt vieles, was Freude auslöst. Ein Auslöser der Freude ist, mit anderen Menschen zusammen etwas zu gestalten, aufzubauen, miteinander etwas zu erfinden. Mit der Freude stecken wir einander an – und so ist zumindest in einer ersten Phase (später kommt leider das Konkurrenzdenken) möglich, dass wir inspiriert miteinander an etwas herangehen, miteinander schöpferisch sein können. Freude ist die Grundlage für Inspiration – vom Geist erfasst sein, begeistert sein.

Die Idee der Pfingstgeschichte
Wenn wir uns freuen, wenn wir gar inspiriert sind – und das ist eine Mischung aus Freude, Interesse, Vertrauen und Zuversicht – dann können wir auch eine Vision davon haben, was wir miteinander gestalten wollen. Die Idee in der Pfingstgeschichte, dass sich die Menschen miteinander versammeln und in allen Zungen miteinander reden können, beruht letztlich auf dem Grundgefühl der Freude und der verstärkten Freude, der Begeisterung. Begeisterung, Inspiration kann man verstehen als Ergriffensein, Betroffensein von Gedanken, Einsichten, Gefühlen, die übervernünftig oder ausservernünftig erscheinen. In der Kreativitätsforschung wird Inspiration oft als Einwirkung eines göttlichen Wirkens gesehen. (Arthur Koestler, Der göttliche Funke, Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Scherz, Bern/München/Wien 1966). Auch nüchterne Menschen sprechen davon, dass plötzlich etwas von ihnen Besitz ergriffen hat, das über sie hinausgeht. Heute wird das als die Erfahrung von Emergenz beschrieben: einer Veränderung, die sich nicht logisch erklären lässt, die eine neue Sichtweise eröffnet und mit einem gehobenen Lebensgefühl einhergeht: man ist begeistert, beschwingt. In Zeiten, in denen man weniger nüchtern war, sprach man von Ekstase. In der Ekstase tritt der Mensch aus sich selbst heraus und macht einem Gott Platz, der dann aus ihm spricht. Nüchterner: man ist gepackt von einer Idee, die sich formuliert, die sich Raum nimmt – und das korrespondiert ganz gut mit der Pfingstgeschichte: «Und alle wurden mit Heiligem Geist erfüllt und begannen, mit anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen zu sprechen verlieh (…).» Und aus dieser Erfahrung heraus entstand ein Wir – Gefühl, eine Vision, die Vision der urchristlichen Gemeinde. Wir alle wissen, dass Visionen so weit als möglich in die Realität umgesetzt werden, sich dann aber verfestigen und sich verkrusten. Und dann bräuchte es eben wieder neue Inspiration für etwas Neues. Wieder frisch sich auf die Freude einlassen, sie erwarten – darauf vertrauen, dass sie immer wieder vorhanden ist. Und es beginnt nicht bei den grossen Emotionen, sondern bei der stillen Freude, aber vor allem auch bei der geteilten Freude.

Vorfreude als Risiko
Der Kantatentext lädt also dazu ein, diese emotionalen Erfahrungen zuzulassen. Vorläufig ist es aber erst eine Vorfreude. Vorfreude ist für viele eine riskante Freude: in der Vorfreude stellt man sich etwas vor, das uns mit grosser Freude erfüllen wird. Trifft das Erwartete nicht ein, kann man enttäuscht werden. Also besser keine Vorfreude zulassen, um nicht enttäuscht zu werden? Besser wäre es, anders zu denken. Wenn es uns gelingt, uns so offen zu halten, dass wir nicht an unseren Erwartungen festhalten müssen, wir diese auch loslassen können, dann können wir die Vorfreude zulassen und geniessen. Vorfreude ist die beste Freude. Was immer auch geschieht, die Vorfreude kann uns niemand mehr weg- nehmen. Die haben wir dann schon genossen. Die Neurowissenschafter weisen übrigens nach, dass die Vorfreude verbunden ist mit etwas Angst, oder mit Angstlust, und deshalb besonders erregend ist. Und dass unser Belohnungssystem im Gehirn, das anspringt, wenn wir uns gut fühlen, bei der Vorfreude besonders aktiviert wird. Materielle Dinge, die uns gut fühlen lassen, werden in ihrer Wirkung mit der Zeit immer schwächer, regen unsere Belohnungssystem immer weniger an. Nicht so die Vorfreude und auch die Freude. Diese intrinsische Belohnung gibt uns am meisten gute Gefühle. (Gerhard Roth)
Nun endet allerdings das Rezitativ mit dem Seufzer: «Ach, dass doch, wie er wollte, / ihn auch ein jeder lieben sollte.» Eine Bedingung, eine Forderung, eine Aufforderung? Psychologisch gesehen brauchen wir diese Bedingung nicht. Freude, Inspiration, Vorfreude – alle Emotionen – sie sind dem Menschen zugänglich, allerdings ist es notwendig, diese gehobenen Emotionen wahrzunehmen und sie auch wertzuschätzen.

Lebendig werden
Ich würde dieses Liebesgebot so verstehen: Wenn wir uns freuen, dann können wir uns auch einlassen auf die anderen, können wir die anderen und das Leben lieben, werden wir lebendig, inspiriert gelegentlich, getragen von Hoffnung auf das Bessere trotz aller Widrigkeiten, sind immer wieder auf dem Weg vom Tod ins Leben, werden lebendig.
Ich möchte zum Schluss zurückkommen auf die Blödigkeit des Fleisches, auf unsere Gebrechlichkeit Schwachheit, Zaghaftigkeit. In der psychosomatischen Medizin werden viele Störungen heute als die Folge von Distress verstanden, von schädlichen Stressphänomenen. Und diese werden nicht nur in einer aktuellen Überforderung gesehen, sondern im Zusammenhang mit der ganzen Biographie eines Menschen. Um den Stressfolgen entgegen zu wirken, um sich zu entstressen, werden heute viele verschiedene Methoden benannt. Darunter, als ein ganz wesentlicher Aspekt, das Zulassen von Vorfreude, das bewusste Erleben von Freude, das Erinnern und erzählen von freudigen Situationen, was uns ermöglicht, diese Gefühle wieder aktuell zu erleben. Freude und Vorfreude sind oft verbunden mit Bindungen zu Menschen, zu Tieren, zur Natur, zur Kunst, und last but not least: Musik, die uns gefällt, entstresst nachgewiesenermassen, steigert die Immunabwehr, allerdings mehr noch beim eigenen Tun als beim alleinigen Hören.

 

Literatur

Verena Kast, Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks, Kreuz, Freiburg 2010

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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