Bleib bei uns, denn es will Abend werden

BWV 006 // zum 2. Osterfesttag

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Oboe da caccia, Streicher und Basso continuo

«Es hat sich eine Dämmerung aufgemacht; aus ihren Falten werden tiefere Finsternisse fallen» – der Schriftsteller Stephan Hermlin hat in seinem Zeugnistext «Abendlicht» jene zwischen Resignation und Hoffnung oszillierende Stimmung eingefangen, die Lukas’ Bericht vom Gang nach Emmaus ebenso durchzieht wie Bachs 1725 komponierte Kantate. Ihr Eingangschor verknüpft die Bitte um Behütetsein im Angesicht der Nacht mit bebenden Passionsklängen; die Binnensätze deuten das Ringen um Licht und Erkenntnis als Suche nach gültiger Orientierung. Wie Bach dabei den Choral «Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ» sensibel modernisiert hat, gehört zu den funkelnden Perlen dieser Musik der dunklen Schattierungen.

Image copyright:
Caspar David Friedrich
Das Große Gehege bei Dresden. 1832
Öl auf Leinwand, 73,5 x 103 cm
Albertinum | GNM, Gal.-Nr. 2197 A
© Albertinum | GNM, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/Hans-Peter Klut

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Lia Andres

Alt/Altus
Annekathrin Laabs

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Jonathan Sells

Chor

Sopran
Simone Schwark, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel, Mirjam Wernli

Alt
Antonia Frey, Laura Kull, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Jan Thomer

Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Joël Morand, Klemens Mölkner

Bass
Fabrice Hayoz, Johannes Hill, Philippe Rayot, Julian Redlin, Jonathan Sells

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Salome Zimmermann, Elisabeth Kohler, Monika Baer, Andrea Brunner, Patricia Do

Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Claire Foltzer

Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Katharina Arfken, Thomas Meraner

Oboe da caccia
Andreas Helm

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referenten
Hans-Jürg Stefan und Klaus Bäumlin im Dialog

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
22.03.2024

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
2. April 1725, Leipzig

Textgrundlage
Christoph Birkmann; Lukas 24, 29 (Satz 1); Nikolaus Selnecker, mit Strophe 1: Philipp Melanchthon, Strophe 2: Nikolaus Selnecker (Satz 3); Martin Luther (Satz 6)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Das für den zweiten Ostertag vorgesehene Evangelium vom Gang nach Emmaus (Lk 24,13-35) ist eine Geschichte von besonderer Ambivalenz. Wie sich die Trauer und Verwirrung der Jünger nach Jesu Kreuzestod im Gespräch mit ihrem erstaunlich kundigen Mitpassanten in Neugier und Zuversicht wandelt und schliesslich in einer kaum vorstellbaren Epiphanie des Auferstandenen mündet, kann heute noch genau wie zu Bachs Zeit anrühren und ermutigen.
Im Eingangschor der Kantate «Bleib bei uns» BWV 6 dominieren aber zunächst noch die dunklen und angstvollen Töne. Was in tiefster Lage tremolierende Streicher und klagend absteigende Oboen hier andeuten, ist mehr als ein nahender Sonnenuntergang irgendwo auf dem Lande. In finsteres c-Moll gekleidet, sind es vielmehr die Schatten der Passion und der völligen Hoffnungslosigkeit, die hier nach dem Tod ihres Meisters auf den Zurückbleibenden lasten. Entsprechend kommt auch die Anrede «Bleib bei uns» nicht als joviale Einladung, sondern als Hilferuf aus tiefster Seele daher: «Verlass uns nicht, nicht jetzt». Dass hinter den abwärtsgeneigten Gesten zunehmend Töne der Hoffnung aufscheinen und das flehentliche Bitten Züge bekenntnishafter Treue annimmt, macht Bachs Vertonung ebenso plausibel wie die in der zwischengeschalteten Doppelfuge motivisch Gestalt gewordene Scheidung von Nacht und Tag als Ausdruck von äusserer Welt und glaubendem Beharren. Ein dramatischer Unisono-Ruf, der mehr nach Mendelssohn und Brahms als nach dem Leipzig des Jahres 1725 klingt, leitet über in eine verkürzte Wiederholung des Beginns, die ohne jedes tröstliche Nachspiel die Zuhörenden direkt anspricht.
Nach solcherlei Klangmassen und Affektballungen tut die luftige Faktur der folgenden Altarie besonders wohl. In warmes Es-Dur getaucht, beginnt über pizzicato-Basstönen eine instrumentale Oberstimme zu singen, deren aparte Klangfarbe Bach offenbar so am Herzen lag, dass er sich in den nachweisbaren Wiederaufführungen kaum zwischen Oboe da caccia und Viola entscheiden konnte. Dieses zarte Gebet setzt die Erkenntnis des «hochgelobten Gottessohns» und damit die Schlusspointe der Emmaus-Erzählung bereits voraus und transformiert die konkrete Bitte der Jünger in ein Sehnen nach immerwährender Gegenwart Jesu in den Finsternissen der Welt.
Erstaunlicherweise lassen Bach und sein Librettist Birkmann darauf kein Rezitativ, sondern einen strukturell ähnlichen Satz folgen, der durch seine Identität als doppelte Choralstrophe jedoch andere Horizonte eröffnet. Erneut ist es mit dem Violoncello piccolo ein in der sonoren Mittellage angesiedeltes Soloinstrument, das in virtuosen Kantilenen und Akkordbrechungen die Intensität der vom Sopran vorgetragenen Bitte unterstreicht. Bach hat diese gelungene Trio-Aneignung des gemeindlichen Abendliedes noch 1747/48 in seine sämtlich auf derartige Kantatensätze zurückgehende Sammlung der «Schübler-Cho- räle» aufgenommen. Dass das 1611 erstmals gedruckte Lied vom Leipziger Superintendenten und geschworenen Calvinistenfeind Nikolaus Selnecker stammt, seine erste Strophe jedoch auf eine Hymnenübersetzung des friedfertigen Philipp Melanchthon zurückgeht, verweist auf die auch intern äusserst konfliktreiche Geschichte der lutherischen Reformation.
Trotz solch paradiesischer Klangwelten hat die Dunkelheit keineswegs abgenommen, was im folgenden Bassrezitativ nicht allein beklagt, sondern selbstkritisch zum Thema gemacht wird. Denn Gott hat nach dem Wortlaut der Offenbarung des Johannes den «Leuchter» vor allem «umgestoßen», weil die Menschen sich von seinem Wort und seiner Gerechtigkeit als ihrer Christenpflicht entfernt haben.
Die Tenorarie greift dies mit dem Gebet «Jesu, laß uns auf dich sehen» auf, dem im unerbittlichen g-Moll eine eindringliche Streicherbegleitung den gebührenden Ernst verleiht. Die der Violine 1 übertragenen Triolenketten wirken dabei wie die mahnend in eine Busspredigt eingestreuten biblischen Exempel. Dass die ohne Da-capo-Wiederholung konzipierte Arie überraschend schnell zum Ende gelangt, könnte auf die Dringlichkeit des Anliegens verweisen – dieses einzigartig «helle Licht» darf tunlichst nicht verlöschen.
Wenn das Licht des Glaubens in gut protestantischer Tradition als Wort Christi verstanden wird, dann könnte die Kantate kaum besser als mit der zweiten Strophe von Luthers spätem Choral «Erhalt uns Herr bei deinem Wort» enden. Es ist eine noch immer von Verlassenheit bedrohte Christenheit, die hier angesichts einer auf beängstigende Weise fortdauernden Emmaus-Konstellation um konkret erlebbaren Beistand bittet.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

«Es hat sich eine Dämmerung aufgemacht; aus ihren Falten werden tiefere Finsternisse fallen» – der ostdeutsche Schriftsteller Stephan Hermlin hat in seinem autobiografischen Zeugnistext «Abendlicht» (1979) jene auch die späten Jahre der DDR prägende und zwischen Resignation und Hoffnung oszillierende Stimmung eingefangen, die Lukas‘ Bericht vom Gang nach Emmaus ebenso durchzieht wie Bachs 1725 komponierte Kantate. Eigentlich erstaunlich für eine Musik zum Fest des zweiten Ostertages, in der man doch das weiterhin hell strahlende Licht der Auferstehung, eines leuchtenden Sonnenaufgangs erwarten würde. Aber der unbekannte Librettist deutet den Satz des Sonntagsevangeliums Lukas 24, 29 vom vergehenden Licht, der dort ja den Auftakt zu einer Christusbegegnung bildet, als eine Lebens- und Glaubenserfahrung des Alltags – und er folgt damit einer langen Tradition. Auch der für den Tag vorgeschriebene Psalm 62 spricht von düsteren Erfahrungen, ein Bittgebet an Gott, der wiederholt «Fels, Hilfe, Schutz» genannt wird. Der Eingangschor verknüpft die Bitte um Behütetsein im Angesicht der Nacht mit bebenden Passionsklängen; die Binnensätze deuten das Ringen um Licht und Erkenntnis als Suche nach gültiger Orientierung. Wie Bach dabei den alten Choral «Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ» durch eine konzertante Trioanlage sensibel modernisiert hat, gehört zu den funkelnden Perlen dieser Musik der dunklen Schattierungen.

1. Chor

«Bleib bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.»

1. Chor

Die Kantate setzt ein mit der zweiten Ostergeschichte des Lukasevangeliums, an jener Stelle, wo die beiden von der Kreuzigung erschütterten Jesusjünger den noch nicht erkannten Begleiter und «Interpres», den auferstandenen Christus, bitten: «Bleib bei uns, denn es will Abend werden» (Luk. 24, 29). Der im schwerblütigen 3⁄4-Takt gehaltene Orchestersatz kombiniert ein anfangs von den Oboen vorgetragenes abwärtsfallendes Motiv mit gebundenen Seufzerketten und einem aus langsamen Achtelwiederholungen geknüpften Klangteppich. Damit wird zugleich das Zwielicht der einfallenden Dämmerung wie die drängende Intensität des bittenden Gesprächs evoziert. Es sind kontrastierende Aussagedimensionen, die Bach in der um kraftvolle Tonwiederholungen («Bleib bei uns») herum konzipierten Doppelfuge des Mittelteils kunstvoll einander gegenüberstellt.

2. Arie — Alt

Hochgelobter Gottessohn,
laß es dir nicht sein entgegen,
daß wir itzt vor deinem Thron
eine Bitte niederlegen:
Bleib, ach bleibe unser Licht,
weil die Finsternis einbricht.

2. Arie — Alt

Der unbekannte Textdichter verdeutlicht die auf die Erfahrung einbrechender Dunkelheit konzentrierte Interpretation der Bibelstelle mit einem Gebet, das die Bitte wiederholt: «Bleib, ach bleibe unser Licht, weil die Finsternis einbricht.» Nach dem trüben c-Moll des Eingangschors wirkt der Wechsel in das warme Es-Dur ungemein tröstlich. Die Kombination der solistischen Altstimme mit einer ausdrucksstarken Partie für Oboe da caccia (bei einer späteren Wiederaufführung der Bratsche anvertraut) sowie einem pizzicato-getupften Continuobass unterstreicht den demütig abgedunkelten Charakter einer Bitte.

3. Choral — Sopran

Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ,
weil es nun Abend worden ist,
dein göttlich Wort, das helle Licht,
laß ja bei uns auslöschen nicht.
In dieser letzt’n betrübten Zeit
verleih uns, Herr, Beständigkeit,
daß wir dein Wort und Sacrament
rein b’halten bis an unser End.

3. Choral – Sopran

Mit dem nun folgenden Choral, der 1. und 2. Strophe von Nikolaus Selneckers Trostlied aus dem Jahr 1611 (einer freien Übertragung von Melanchthons Hymnus «Vespera iam venit» 1579), wird die Abendmahlsanspielung des Ostertextes aufgenommen, nämlich die helle Erfahrung von «Wort und Sacrament». Erstaunlicherweise setzt Bach hier nicht auf einen vierstimmigen Choralsatz, sondern stellt dem Liedvortrag des Soprans eine den Cantus firmus virtuos umspielende Solopartie für Violoncello piccolo gegenüber, die den sinnierenden Gestus der Altarie fortschreibt. Diese eingängige Trioanlage ging 1746 als Orgelversion in die sechs sogenannten «Schübler-Choräle» ein.

4. Rezitativ — Bass

Es hat die Dunkelheit
an vielen Orten überhand genommen.
Woher ist aber dieses kommen?
Bloß daher, weil sowohl die Kleinen als die Großen
nicht in Gerechtigkeit
vor dir, o Gott, gewandelt
und wider ihre Christenpflicht gehandelt.
Drum hast du auch den Leuchter umgestoßen.

4. Rezitativ — Bass

Das Rezitativ deutet die Überhandnahme des Bösen und der Finsternis mit der fehlenden Gerechtigkeit bei den Menschen und fügt geschickt ein herbes Zitat aus dem ersten Sendschreiben der Johannesapokalypse an: «werde ich … deinen Leuchter wegstoßen» (Apk 2,5). Das in der Kantate wiederholt vorkommende Septimen-Abwärtsintervall wird hier explizit der «Dunkelheit» zugewiesen.

5. Arie — Tenor

Jesu, laß uns auf dich sehen,
daß wir nicht
auf den Sündenwegen gehen.
Laß das Licht
deines Worts uns helle scheinen
und dich jederzeit treu meinen.

5. Arie — Tenor

Die Arie (sprachlich etwas holprig) bündelt in einem Bittgebet die Perspektive auf Jesus, die Abkehr von Sünden und die Hoffnung auf wegweisende Worte. Die auffällige Spannung zwischen dem heroisch-tenoralen Gestus, auch der Orchestereröffnung sowie den dunklen Einfärbungen und zerstreut wegtropfenden Triolenketten, verleiht der Musik einen bittersüssen Charakter.

6. Choral

Beweis dein Macht, Herr Jesu Christ,
der du Herr aller Herren bist;
beschirm dein arme Christenheit,
daß sie dich lob’ in Ewigkeit.

6. Choral

Der Schlusschoral entspricht der 2. Strophe des Lutherliedes «Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort» aus dem Jahr 1542, in dem die ganze Kantate mit ihrem Wunsch nach Schutz und Bewahrung vor aller Dunkelheit ihre Zusammenfassung findet.

Reflexion

Klaus Bäumlin & Hans-Jürg Stefan im Dialog

Klaus Bäumlin:

Liebe Bachgemeinde, vor Ihnen stehen zwei alte Männer, Freunde seit Studienzeiten, verbunden durch gemeinsames Singen und Musizieren. Als wir zusagten, gemeinsam die Reflexion zur Bachkantate «Bleib bei uns…» zu halten, haben wir diese Zusage unter dem Vorbehalt des Jakobusbriefs gegeben: «Ihr wisst ja nicht, was morgen sein wird, wie es dann um euer Leben steht … Ihr solltet sagen: So Gott will und wir leben, wollen wir dies und das tun» (Jak. 4, 15).

Zwei alte Männer, behaftet mit allerlei Altersgebrechen. Ich kann zum Beispiel nicht mehr singen. Ihr könnt euch, liebe Sängerinnen und Sänger, kaum vorstellen, wie das ist: Wenn einer, für den Singen seit Kindheit ein elementares Lebenselement war, nicht mehr singen kann. Und du, Hans-Jürg, hast wegen der Spätfolgen nach einem Treppensturz dein über 70 Jahre gepflegtes Streichquartettspiel im vergangenen Jahr aufgeben müssen. Zwei alte Männer am Abend des Lebens.

Unsere Kantate ist eine Osterkantate. Ostern ist aber nicht ihr Thema, es kommt auch kein Osterchoral vor. Die Kantate fokussiert stattdessen auf die Bitte der Jünger an Jesus: Bleib bei uns, denn es will Abend werden. Was in der Erzählung des Lukas eine einfache Angabe der Tageszeit ist, wird nun metaphorisch ausgedeutet und ausgeweitet. Die schlichte Zeitangabe der Erzählung – es will Abend werden – wird zu einer allgemeinen, jeden Menschen betreffenden existenziellen Feststellung.

Und so konnte sich die Bitte der Jünger ausweiten zum Gebet, das Georg Christian Diffenbach 1853 verfasst hat:

Bleibe bei uns, denn es will Abend werden,
und der Tag hat sich geneigt.
Bleibe bei uns und bei deiner ganzen Kirche.
Bleibe bei uns am Abend des Tages,
am Abend des Lebens,
am Abend der Welt.
Bleibe bei uns, wenn über uns kommt
die Nacht der Trübsal und Angst,
die Nacht des Zweifels und der Anfechtung,
die Nacht des bitteren Todes.
Bleibe bei uns und allen deinen Gläubigen
in Zeit und Ewigkeit. (RG 586)

Mit dieser Ausweitung wird das einfache Wort «Abend» aufgeladen mit menschlichen Erfahrungen und Affekten, mit Trübsal und Angst, mit Zweifel und Anfechtung, mit Sterben und Tod, ja selbst mit dem Ende der Welt. Dieses Bittgebet fand in der Liturgie mancher Abendgebete seinen Ort. Das freundliche Wort «Abend» wird hintergründig, wird auf einmal zur Bedrohung und Infragestellung. Der Schlaf, des Todes Bruder.

Das Stichwort «Abend» ist denn auch das Thema unserer Reflexion. Wir beide stehen am Abend des Lebens.

Wir alle stehen vielleicht am Abend der Welt. Bleib bei uns …  

Hans-Jürg Stefan:

Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden sangen wir seit 1953 an den Abenden der Jungen Kirche aus dem neuen Jugendgesangbuch «Mein Lied». Seit 1962 gehörte dieser Kanon wie auch Der Mond ist aufgegangen in unserer Familie zu den vertrauten Abendgesängen, mit denen wir unsere vier Kinder in den Schlaf begleiteten. Diese Gesänge erwiesen sich im Laufe der Jahrzehnte als «Grundnahrung unseres Vertrauens». Dazu gesellten sich später in Singwochen und Kantoreien grössere musikalische Werke, etwa Josef Rheinbergers sechsstimmiges «Abendlied» Bleib bei uns, denn es will Abend werden (op. 69, 3) – ja sogar die Erarbeitung unserer Bachkantate in der Ostersingwoche 2002 auf dem Leuenberg/BL (Leitung: Gothart Stier).

1987 entdeckte ich anlässlich einer Konferenz der Gesangbuch-Beauftragten der Evangelischen Kirchen Ost & West im Bonhoeffer-Haus in Berlin Mitte die eindrückliche literarische Darstellung einer Abendmusik mit unserer Kantate, in: Stephan Hermlin: Abendlicht (19877). Bereits der Buchumschlag erscheint durch die Wiedergabe eines Gemäldes deutscher Romantik mit einer besonderen Aura aufgeladen:

Caspar David Friedrich, Das große Gehege bei Dresden, 1832.
Öl auf Leinwand, 73,5 x 103 cm, Albertinum | GNM, Gal.-Nr. 2197 A
© Albertinum GNM, Staatl. Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/Hans-Peter Klut

Der Künstler Caspar David Friedrich (1832) konzipierte das Gemälde, wie zahlreiche andere Werke, mit «romantischem Kalkül» (Werner Busch, 2024): Schon auf den ersten Blick fallen zwei einander gegenüberliegende, über sich hinausweisende Bogenformen (Hyperbeln) auf: Die untere umfasst, angrenzend an die Elbe, düsteres Schwemmgebiet mit Wassertümpeln. Darüber stehen dunkle Baumgruppen. Diesem irdischen Bereich entgegengesetzt erscheint, markiert durch ein graublaues Wolkenband, der gleichsam «zur Ewigkeit offene Bogen» hoch über den dunklen Waldpartien. Durch aufgerissene Wolkenfetzen leuchtet in prächtiger Farbenskala das Abendlicht. – Innen im Buch folgt auf dem 1. Vorsatzblatt das Motto, dem der Buchtitel entnommen ist: Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren (Robert Walser).[1] Auf dem zweiten Vorsatzblatt folgt Hermlins Beschreibung einer österlichen Abendmusik mit unserer Kantate:  

In den schwarz gedruckten Abschnitten folgt Hermlin dem Kommentar von Alfred Dürr (Kassel, 1971). Dazwischen beschreibt er die Atmosphäre, in der gesungen und musiziert wird. So liest er selber von Jugend auf, indem [Zitat] «dargestellte Personen und Handlungen nicht so sehr wichtig waren für mich, sondern vielmehr eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten. Unterstützt wurde die Neigung, Atmosphärisches über das eigentlich Berichtete zu stellen oder, wie man auch sagen könnte, in einem gegebenen Text einen zweiten anderen zu lesen …»[2] Dies geschieht entlang den Stichworten: Wälder – Kühle – schnell vergangen – Dämmerung – tiefere Finsternisse – Dunkelheit – Lichterlöschen. Diese Abwärtsspirale beängstigt. Sie entspricht dem Gefälle des Librettos bis zum Tiefpunkt im Bassrezitativ, einem verschärften Zitat aus der Offenbarung (Apc. 2, 5): Dort droht Gott der Gemeinde Ephesus, den Leuchter umzustossen. In der Kantate ist die Drohung bereits vollzogen: Drum hast du auch den Leuchter umgestoßen!

Im Zentrum seiner Collage fasst Hermlin das Gespräch der Jünger in einen einzigen Satz. Während sie sich vergegenwärtigen, was Jesus während der vergangenen drei Tage in Jerusalem widerfahren war, klärt sie der Fremde anhand prophetischer Schriften auf. Trotzdem erkennen sie in ihm den Auferweckten noch nicht: Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten gegeben werden, werden Fragen warten.

Liebe Bach-Gemeinde, Hermlins Beschreibung einer Aufführung unserer Kantate endet mit den ersten drei Worten des Eingangschores: Bleib bei uns! Aus derselben Quelle (Lk. 24, 29) ist der bereits erwähnte Kanon entstanden: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.

Wir singen zuerst alle miteinander einstimmig. Danach entfalten die Frauenstimmen den Kanon bis zur Dreistimmigkeit:

  1. auf dem Podium,
  2. im Kirchenschiff rechts,
  3. im Kirchenschiff links.

Beim 4. Einsatz kommen die Männer hinzu mit der 1. Str. von Der Mond ist aufgegangen:

Klaus Bäumlin:

Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius ist mein liebstes Abendlied. Als eines der ganz wenigen Lieder unseres Gesangbuchs, vielleicht als einziges, gehört es zur grossen Dichtung der Weltliteratur. Als Kind habe ich es mit meiner Mutter vor dem Einschlafen gesungen. Jahrzehnte später habe ich verstanden, dass dieses Lied keine Idylle beschreibt, nicht lauter Harmonie ist. Da ist eine Ahnung, ein Gespür für unheimliche Abgründe und Widersprüche. Zwar beginnt es ganz friedlich: Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Lauter Friede und Ruhe, könnte man meinen.

Dann wird es aufs Mal unheimlich: Der Wald steht schwarz und schweiget. Weisser Nebel steigt auf aus den Wiesen, wunderbar, aber auch etwas gespensterhaft. Was, wenn er bis zum Himmel stiege und das Licht des Mondes und der Sterne verhüllte, vernebelte? Ein Schauer überkommt einen, ein leises Frösteln – kalt ist der Abendhauch. Ein Hauch von Vergänglichkeit weht einen an. Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel. Das Ziel aus den Augen verlieren, den Weg im dichten Nebel nicht finden, sich verlaufen und verirren im schwarzen Wald, im Finsteren, in der Kälte. Albträume aus früher Kindheit tauchen auf. Wir könnten gestraft werden. Die Folgen unserer stolzen Künste könnten uns in den Abgrund reissen. Und nebenan in der stillen Kammer schläft der kranke Nachbar. Wird er die Morgensonne noch aufscheinen sehen? Im Mondlicht wird die Welt eine Nacht lang zur stillen Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt – wenn wir denn den Schlaf finden. Aber am Morgen ist des Tages Jammer wieder da, mit allen seinen Abgründen und Widersprüchen, und die Welt ist wieder voll vom Lärm und Jammer der Menschheit. Und die stille Kammer, mahnt sie nicht auch an das letzte Kämmerlein, in dem wir einmal liegen und alles vergessen und verschlafen werden?

Doch lässt sich vom Abend und von der Nacht nicht auch ganz anders reden und singen? Schon bei Matthias Claudius: Die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; der Mond ist zwar nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.

Der Tod kann auch sanft sein und der Schlaf ruhig und friedlich:

Guten Abend, gut Nacht, / mit Rosen bedacht, /
mit Näglein besteckt, / schlupf unter die Deck: /
/: Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. ://

 Guten Abend, gut Nacht, / von Englein bewacht, /
 die zeigen im Traum / Christkindeleins Baum: /
Schlaf nun selig und süss, schau im Traum’s Paradies.

Es gibt nicht nur Albträume, sondern auch Engelsträume, Träume von Glück und Frieden, Träume, die schöne Erinnerungen vergegenwärtigen und gute Zukunft visionär vorwegnehmen.

Hans-Jürg Stefan:

Träume und hoffnungsvolle Erwartungen begegnen uns auch im Nachtlied von Kurt Marti Bleib, o Herr, auch jetzt in der Nacht. Der Dichter benennt den Adressaten des Nachtgebets, Christus, zweimal pro Strophe mit dem neutestamentlichen Hoheitstitel: «Herr» (Kyrios).

Seine Beiträge zum Gesangbuch bezeichnet Marti als «sozialethische Lieder» (Notizen & Details, 384) – es geht ihm um lebensnotwendige gesellschaftliche Anliegen: Mit Strophe 1 bitten wir, dass Christus, wie damals die Emmaus-Jünger, auch uns durch die Nacht begleiten möge:

Bleib, o Herr, auch jetzt in der Nacht;
die Arbeit hat uns müd gemacht.
Wir bitten dich, sieh gnädig an,
was wir an diesem Tag getan.
Bleib, o Herr, und hüt unsere Ruh,
gib deinen Frieden auch dazu.

Die Belastungen unseres Tagwerks und alles, was pendent blieb, vertrauen wir ihm an; auch die Nachtruhe und unsere Hoffnung auf heilsamen Frieden.

Mit Strophe 2 bitten wir für diejenigen Mitmenschen, die des Nachts für andere arbeiten, und für solche, die spät unterwegs sind:

Bleib, o Herr, der du uns auch heut
im Tageslauf gabst dein Geleit.
Behüte, wer zu dieser Frist
bis spät noch an der Arbeit ist.
Bleib, o Herr, bei allen als Wacht,
die unterwegs sind in der Nacht.

Strophe 3 nimmt die zukunftsweisende Perspektive von Psalm 126 auf, bittet um die Gegenwart Christi bis in unsere Träume hinein. Hier wird das Nachtlied zum Reich-Gottes-Lied:

Bleib, o Herr, lass uns nicht allein,
geh auch in unsre Träume ein.
Wie Träumenden, so wird uns sein,
bricht einst dein Reich mit Macht herein.
Bleib, o Herr, mit uns in der Zeit,
bis einst dein Tag die Welt erneut.

Klaus Bäumlin:

Mit diesem aus der Bitte der Emmaus-Jünger heraus gedichteten Nachtlied kehren wir zurück zum Beginn unserer Kantate.

In ihrer Mitte, in Nr. 3, singt die Sopranstimme den Choral

Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ.

Mit ihm beschliessen wir unsere Reflexion:

Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ,
weil es nun Abend worden ist,
dein göttlich Wort, das helle Licht,
lass ja bei uns auslöschen nicht.                                             

Hans-Jürg Stefan:

Bleib, o Herr, lass uns nicht allein,
geh auch in unsre Träume ein …

[1] Robert Walser: Der Gehülfe (1908). Werke, Berner Ausgabe, Bd. 6, Suhrkamp: Berlin 2019, 172–174. Joseph Marti träumt in der ersten von zwei Karzernächten in unruhigem Schlaf vom Vaterländli des Melkers, des ihm sympathischen Mitgefangenen: «Die zahlreichen Fabrikarbeiter kehrten still und schön und ermüdet von ihren Schaffenswerkstätten heim. Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren. Weite und schallende und ergreifende Glocken tönten.»

[2] Stephan Hermlin (1915–1997): Abendlicht. Ph. Reclam jun.: Leipzig 1979/71987, 19. Neuausgabe, ohne Reproduktion des Gemäldes von C. D. Friedrich, mit einem Nachwort von Kathrin Schmidt und einer Rede von Verleger Klaus Wagenbach: Berlin 2015.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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