Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget
BWV 064 // zum 3. Weihnachtstag
für Sopran, Alt und Bass, Vokalensemble, Zink, Posaune I-III, Oboe d’amore, Streicher und Basso continuo
Dass der erfahrene Kapellmeister Bach den italienisch-deutschen Konzertatstil seiner Zeit beherrschte, musste er nach einem halben Jahr Leipziger Kantorat niemandem mehr beweisen. Daher setzte er zuweilen bewusst auf die alte Vokalpolyphonie und verzichtete auf eigenständige Instrumentalpartien. So werden im Eingangschor der zu Weihnachten 1723 entstandenen Kantate BWV 64 die Singstimmen nur von Streichern sowie dem «Stadtpfeifersatz» aus Posaunen und Zink verdoppelt – ein archaisches Klangbild, das zum rasanten Drive und der geschärften Harmonik des Fugenchores in eigentümlicher Spannung steht und so in der Krippenfreude schon das spätere Kreuz antönen lässt. Die drei Choralsätze des Werkes hellen dann ebenso wie die tänzerisch-farbigen Arien diesen auf Weltabwendung zielenden Ton der Kantate auf.
Chor
Sopran
Lia Andres, Alice Borciani, Cornelia Fahrion, Mirjam Striegel, Baiba Urka, Noëmi Tran-Rediger
Alt
Antonia Frey, Stefan Kahle, Alexandra Rawohl, Lea Scherer, Sarah Widmer
Tenor
Zacharie Fogal, Manuel Gerber, Klemens Mölkner, Sören Richter
Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, Peter Strömberg, Tobias Wicky
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Patricia Do, Elisabeth Kohler Gomez, Olivia Schenkel, Salome Zimmermann
Viola
Susanna Hefti, Claire Foltzer, Matthias Jäggi
Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov
Violone
Markus Bernhard
Oboe d’amore
Andreas Helm
Fagott
Susann Landert
Zink
Frithjof Smith
Posaune
Henning Wiegräbe, Christine Häusler, Joost Swinkels
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referentin
Susanne Burri
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
13.12.2024
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
27. Dezember 1723, Leipzig
Textgrundlage
Satz 1: 1. Johannes 3, 1
Satz 2: «Gelobet seist du, Jesu Christ» (Martin Luther, 1524), Strophe 7
Satz 4: «Was frag ich nach der Welt» (Balthasar Kindermann, 1664), Strophe 1
Satz 8: «Jesu, meine Freude» (Johann Franck, 1653), Strophe 5
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
«Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir Gottes Kinder heißen.»
1. Chor
Das Proprium des dritten Weihnachtstages ist dem Gedenken des Evangelisten Johannes gewidmet, dessen Theologie der Gottesliebe und der Gotteskindschaft mit dem Diktum aus dem 1. Johannesbrief 3:1 der Kantate BWV 64 das Thema vorgibt. Entsprechend ist der Satz als vierstimmige, strenge Motettenform mit duplierenden Streichern und Blechbläsern ausgestaltet. Aus dem hinweisenden Ruf «Sehet» schälen sich dabei dichte Imitationen heraus, deren Melodieführung so auffallend häufig von Kreuzvorzeichen Gebrauch macht, dass damit sicher ein Vorausblick auf das Liebesopfer Christi (am Kreuz) mitgemeint ist.
2. Choral
Das hat er alles uns getan,
sein groß Lieb zu zeigen an.
Des freu sich alle Christenheit
und dank ihm des in Ewigkeit.
Kyrieleis.
2. Choral
Die Antwort erklingt mit der ins helle G-Dur überführten siebten Strophe des Lutherchorals «Gelobet seist du, Jesu Christ», welche von der Liebe Gottes, der Freude und dem Dank der Menschen handelt.
3. Rezitativ – Alt
Geh, Welt! behalte nur das Deine,
ich will und mag nichts von dir haben,
der Himmel ist nun meine,
an diesem soll sich meine Seele laben.
Dein Gold ist ein vergänglich Gut,
dein Reichtum ist geborget;
wer dies besitzt, der ist gar schlecht versorget.
Drum sag ich mit getrostem Mut:
3. Rezitativ – Alt
Das Alt-Rezitativ greift den starken johanneischen Dualismus auf – die Spannung zwischen der vergänglichen Welt und der himmlischen Ewigkeit Gottes: «Gold ist ein vergänglich Gut». Der nach dem Weihnachtschoral heftige Wechsel der Textaussage wird durch rasante Continuo-Oktavzüge unterstrichen, die neben der Entschlossenheit auch die Himmelsorientierung oder Weltabwendung illustrieren.
4. Choral
Was frag ich nach der Welt
und allen ihren Schätzen,
wenn ich mich nur an dir,
mein Jesu, kann ergötzen?
Dich hab ich einzig mir
zur Wollust fürgestellt;
du, du bist meine Lust:
Was frag ich nach der Welt!
4. Choral
Mit der ersten Strophe des Chorals «Was frag ich nach der Welt» von Balthasar Kindermann (1664) lautet die Antwort: Nicht die Welt mit ihren Schätzen ist zu ersehnen, denn nur an Jesus soll und kann man sich «ergötzen».
5. Arie – Sopran
Was die Welt
in sich hält,
muß als wie ein Rauch vergehen.
Aber was mir Jesus gibt,
und was meine Seele liebt,
bleibet fest und ewig stehen.
5. Arie – Sopran
Der Librettist Knauer wählt für die Sopran-Arie eine starke Metapher: Wie Rauch müsse vergehen, was «die Welt an sich hält», während das, was Jesus gebe, ewig bestehen bleibe. Bach wählt dafür ein ostentativ weltliches Tanzmodell, dessen aufstampfende Verabschiedungsgesten im Mittelteil sanft tragenden Tönen gefestigter Jesusliebe weichen.
6. Rezitativ – Bass
Der Himmel bleibet mir gewiß,
und den besitz ich schon im Glauben.
Der Tod, die Welt und Sünde,
ja selbst das ganze Höllenheer
kann mir, als einem Gotteskinde,
denselben nun und nimmermehr
aus meiner Seele rauben.
Nur dies, nur einzig dies
macht mir noch Kümmernis,
daß ich noch länger soll auf dieser Welt verweilen,
denn Jesus will den Himmel mit mir teilen,
und dazu hat er mich erkoren,
deswegen ist er Mensch geboren.
6. Rezitativ – Bass
Im gewichtigen Bass-Rezitativ wird in sensibler Wortakzentuierung der Gegensatz vertieft: Dem Gotteskind können «Tod, Welt, Sünde» und «selbst das ganze Höllenheer» nichts anhaben. Da Jesus «den Himmel mit mir teilen» wolle, fragt sich der Sänger, weshalb überhaupt er länger auf dieser Welt weilen solle.
7. Arie – Alt
Von der Welt verlang ich nichts,
wenn ich nur den Himmel erbe.
Alles, alles geb ich hin,
weil ich genug versichert bin,
daß ich ewig nicht verderbe.
7. Arie – Alt
Die Alt-Arie nimmt diesen Faden der Zuversicht auf: «Von der Welt verlang ich nichts, wenn ich nur den Himmel erbe». Der schwingende Duktus des 6⁄8-Taktes und die wärmende Klangfarbe der Oboe d’amore verleihen dieser Arie die Aura inwendiger Freude und hingebungsvoller Zuversicht.
8. Choral
Gute Nacht, o Wesen,
das die Welt erlesen,
mir gefällst du nicht.
Gute Nacht, ihr Sünden,
bleibet weit dahinten,
kommt nicht mehr ans Licht!
Gute Nacht, du Stolz und Pracht,
dir sei ganz, du Lasterleben,
gute Nacht gegeben!
8. Choral
Die Kantate schliesst mit der fünften Strophe des Chorals «Jesu, meine Freude» von Johann Franck (1653), die der Welt feierlich «Gute Nacht» sagt. Erneut sorgen geschärfte Harmonien und der mitlaufende Posaunen-Zink-Satz für eine archaisch-ernste Bekenntnisaussage.