Ein feste Burg ist unser Gott
BWV 080 // zum Reformationstag
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I–III, Oboe d’amore I–II, Oboe da caccia, Taille, Tromba, Timpani, Orgel, Streicher und Basso continuo
Bachs Kantate «Ein feste Burg ist unser Gott» BWV 80 vertont Luthers kämpferisches Lied von 1529, das erst nach dem Tod des Reformators zur Hymne des Protestantismus wurde. Die Kantate geht auf eine 1715 zum Sonntag Oculi entstandene Weimarer Komposition zurück, die mit dem Basssolo «Alles, was von Gott geboren» begann, dem der Choral «Ein feste Burg» als kommentierende Ebene beigegeben ist. Diese latente Choralbindung nahm Bach in Leipzig zum Anlass, die Kantate zum Reformationstag umzuwidmen und sie zunächst mit einem würdevollen Choralsatz einzuleiten, bevor er diesen in den 1730er Jahren durch eine ausgedehnte Liedmotette ersetzte. Sein Sohn Wilhelm Friedemann wiederum zog die Tuttisätze 1 und 5 für seine Hallenser Kirchenmusik heran, unterlegte ihnen lateinische Texte und fügte einen Trompeten-Pauken-Chor hinzu, der noch heute zuweilen mit der väterlichen Fassung kombiniert wird. Trotz aller Meisterschaft ist der Kantate eine gewisse Spannung zwischen den beiden Werkschichten Reformation und Oculi eigen. Während das 19. Jahrhundert mit seinem heroisierten Bachbild eine auf die massigen Chorsätze zugespitzte Darbietung bevorzugte, vermag man heute auch die intimen Weimarer Solosätze zu schätzen.
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Werkeinführung
Reflexion
Bonusmaterial
Chor
Sopran
Lia Andres, Felicitas Erb, Olivia Fündeling, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger
Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Damaris Rickhaus
Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Raphael Höhn, Nicolas Savoy
Bass
Fabrice Hayoz, Matthias Lutze, Jonathan Sells, Philippe Rayot, Tobias Wicky
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Plamena Nikitassova, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Claire Foltzer, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Christoph Rudolf, Ildikó Sajgó
Viola
Martina Bischof, Sarah Krone, Sonoko Asabuki
Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Philipp Wagner, Dominik Melicharek, Ann Cathrin Collin
Oboe d’amore
Philipp Wagner, Dominik Melicharek
Oboe da caccia
Philipp Wagner
Taille
Ann Cathrin Collin
Trompeten/Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel, Pavel Janecek
Timpani/Pauke
Martin Homann
Fagott
Susann Landert
Kontrafagott
Alexander Golde
Orgel
Nicola Cumer
Cembalo
Jörg Andreas Bötticher
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Anselm Hartinger, Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Johannes Anderegg
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
19.08.2016
Aufnahmeort
Teufen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1, 2, 5, 8
Martin Luther
Textdichter Nr. 2, 3, 4, 6, 7
Salomo Franck, 1715
Erste Aufführung
Unbekannt,
wahrscheinlich nach 1729/31
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Der Eingangschor beginnt ohne Vorspiel als fugierte Motette mit verdoppelnden Instrumenten. Bach setzt dem ehrwürdigen Anlass entsprechend auf eine altertümliche Form, die durch das Hinzutreten zweier kanonisch geführter Cantus-firmus-Stimmen raumgreifende Grösse erhält. Er spaltet dafür seine Continuogruppe in eine Begleitstimme aus Violoncello und Cembalo sowie einen Liedbass aus Orgel und Violone auf, der als Fundament den drei Oboen gegenübertritt, die zwei Oktaven höher die gleiche Melodie intonieren. Die früher oft mit Orgelpedal oder Posaunen ausgeführte Choralbass-Stimme wird in unserer Einspielung durch ein Kontrafagott in 16-Fuss-Lage verstärkt, wie es Bach 1749 für die IV. Fassung seiner Johannespassion heranzog.
Im folgenden Duett passt das über einem rumpelnden Continuo vorwärtsdrängende Streicherunisono perfekt zum sporenklirrenden Text und den siegesgewissen Koloraturen. Es ist eine echt lutherische Tintenfass-Musik, die auf die Taufe als Zeichen des Neuen Bundes und auf Christi Opfertod als Quell der Zuversicht verweist. Diese Verknüpfung einer Ritornellarie mit einer Choralbearbeitung stellte Bach gerade im kantablen Mittelteil vor eine beträchtliche kompositorische Aufgabe. Während die durchlaufende Streichermotorik Konstanz erzwingt, verleiht die Wiederbenutzung des Chorals als textierte und zusätzlich instrumental ausfigurierte Zusatzstimme den beiden ersten Kantatensätzen einen partitaähnlichen Zug, mit dem Bach seine Weimarer Berufsfelder als Hoforganist und Konzertmeister versöhnte.
Das Bassrezitativ greift den Gedanken des Blutopfers Christi auf, interpretiert das endzeitliche Ringen jedoch im Sinne eines immerwährenden Kampfes gegen Welt und Satan. Das abschliessende Arioso ist für einen von der Verbindung von Christi Geist und Menschenseele redenden Text so kreuzlastig gesetzt, dass man annehmen darf, Bach habe den in seiner theologischen Bibliothek reich vertretenen Luther aufmerksam gelesen: Trotz der Gnadenzusage fällt es hörbar schwer, das ganze Leben der heilsamen Busse unterzuordnen. Luthers Kreuzestheologie wird so als herbe Botschaft erkennbar, deren schmerzliche Energie ein Continuonachspiel nachgerade Schumann’schen Charakters freisetzt.
Als zartes Liebeslied, in dem sich banges Hoffen und das Bewusstsein eigener Unwürdigkeit die Waage halten, gehört die Sopranarie «Komm in mein Herzenshaus» zum Besten, was Bachs Weimarer Arienstil hervorgebracht hat. Nach einem trutzigen Mittelteil endet das Stück mit einer in der Höhe gesteigerten und im Gestus noch eindringlicheren Reprise.
«Und wenn die Welt voll Teufel wär» – der Chor Nummer 5 führt mit seiner D-Dur-Schlachtmusik einen abrupten Bruch herbei. Das bei Bach seltene Unisono aller Singstimmen beschwört konfessionelle Einigkeit, und die beschwingte «Militär-Giga» zitiert im Medium der Kunstmusik den Choralgesang der in den Leipziger Hauptkirchen versammelten Tausenden Gläubigen. Als mitreissende Mischung von Gemeindelied und Brandenburgischen Konzerten lässt dieser Satz deutlich werden, welches Potential die Leipziger aktivierten, als sie mit Bach einen begnadeten Kapellmeister und Organisten zugleich ins Thomaskantorat hievten. Das pathetische Tenorrezitativ, das den Glauben als Weg zum geistlichen Sieg einschärft, führt von der Gemeinde zurück zur individuellen Seele. Im predigthaften Schluss «Dein Heiland bleibt dein Hort» vereinen sich Continuo und Sänger zu einer verzückten Kantillation.
Einen verinnerlichten Charakter weist das Duett auf. Die in Leipzig mit einer (in Weimar nicht vorhandenen) Oboe da caccia sowie Violine besetzten Solostimmen eröffnen den Reigen, bevor Alt und Tenor in zarten Wohlklängen hervortreten. Die Kritik des Textes am äusserlichen Gebet allein des Mundes gegenüber dem wahren Herzensglauben wird bei Bach musikalisch gerade nicht konträr ausgebeutet. Der Komponist, der hier einer Denkfigur John Eliot Gardiners zufolge mit dem Libretto «über Kreuz» liegt, lässt vielmehr auch den schwachen Menschen in der Liebe eines selig-entrückten Klanggerüstes geborgen sein. Daraus erwächst ein triumphierender Mittelteil, der die streitbare Musik des Satzes 2 zitiert. Im gelösten Schluss wird dann jedoch die Krone des Lebens im christlichen Sterben als wahres Ziel hörbar gemacht.
Der abschliessende Choralsatz antwortet darauf mit gesammelter Kraft. Die fatalistischen Textzeilen «Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib – lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn» wirken allerdings nicht nur für uns Heutige schwer erträglich. Ob den alternden Luther wohl bei der intensiv bezeugten Trauer um seine Tochter Magdalena dieses hochfahrende Pathos reute?
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Die Kantate ist aus der 1715 in Weimar komponierten und für den Sonntag Oculi bestimmten Kantate «Alles, was von Gott geboren» BWV 80a entstanden. Da in Leipzig während der Passionszeit keine Kantaten aufgeführt wurden, hatte Bach dort keine Verwendung mehr dafür. Er konnte sie aber leicht mit Luthers «Ein feste Burg» zu einer Choralkantate für das Reformationsfest umarbeiten, zumal die zweite Strophe des Lutherliedes bereits in der Weimarer Fassung als Schlusschoral enthalten war und Bach die Choralmelodie in Satz zwei in der Oboe vortragen liess. Grundlage für dieses Lied ist der 46. Psalm, ein dreistrophiger Hymnus mit dem Kehrreim: «Der Herr der Heerscharen ist mit uns, eine Burg ist uns Jakobs Gott.» Luther hat ihn frei umgedichtet und erweitert. Bachs Umarbeitung vollzog sich in zwei nachweisbaren Stufen, wobei der grossangelegte Eingangschor erst in der spätesten Fassung nach 1729/31 hinzukam. Für seine Hallenser Kirchenmusik fügte dann Wilhelm Friedemann Bach im Zuge einer Umarbeitung und lateinischen Neutextierung der 1. und 5. Sätze Trompeten-/Paukenstimmen hinzu.
1. Chor
Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen;
er hilft uns frei aus aller Not,
die uns itzt hat betroffen.
Der alte böse Feind,
mit Ernst ers itzt meint,
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen.
1. Chor
Die Kantate beginnt mit der ersten Strophe des Lutherliedes. Am Anfang des Psalms 46 heisst es: «Gott ist unsre Zuflucht und Stärke, als mächtige Hilfe be-währt in Nöten.» Bach entwirft dafür eine grossangelegte Choralmotette mit begleitenden Streichern, die durch einen kanonisch enggeführten Doppel-Cantus-Firmus in den Oboen und den extra vom Continuo separierten Orgelbass gekrönt wird.
2. Arie (Bass) und Choral (Sopran)
Alles, was von Gott geboren,
ist zum Siegen auserkoren;
Mit unser Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren.
Es streit’ vor uns der rechte Mann,
den Gott selbst hat erkoren.
Wer bei Christi Blutpanier
in der Taufe Treu geschworen,
siegt im Geiste für und für.
Fragst du, wer er ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herre Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muß er behalten.
Alles, was von Gott geboren,
ist zum Siegen auserkoren.
2. Arie und Choral
Hier folgt die Eingangsarie von Salomon Francks Weimarer Kantate, geschöpft aus dem 1. Johannesbrief 5, 4 und 6–8, in welche Bach Zeilen der zweiten Strophe des Lutherliedes einfügte. Während der Sing-bass und die kämpferische Unisonostimme der Streicher im strahlenden D-Dur voller Vertrauen auf die von Gott gegebene Stärke auftrumpfen, erinnern Sopran und Oboe an die Grenzen der menschlichen Fähigkeit und die höhere Quelle aller irdischen Gewalt («mit unsrer Macht ist nichts getan»). Von besonderem Reiz ist der Parallelklang von zurückhaltend verziertem Choralgesang im Sopran und blühender Koloristik in der Oboe.
3. Rezitativ (Bass)
Erwäge doch,
Kind Gottes, die so große Liebe,
da Jesus sich
mit seinem Blute dir verschriebe,
womit er dich
zum Kriege wider Satans Heer
und wider Welt und Sünde
geworben hat!
Gib nicht in deiner Seele
dem Satan und den Lastern statt!
Laß nicht dein Herz,
den Himmel Gottes auf der Erden,
zur Wüste werden!
Bereue deine Schuld mit Schmerz,
daß Christi Geist mit dir sich fest verbinde!
3. Rezitativ
Der Text dieses Satzes bezieht sich mehrmals auf die Schriftlesungen zum Sonntag Oculi, für welchen die Kantate ursprünglich bestimmt war, nämlich die Ermahnungen zu einem heiligen Wandel aus dem fünften Kapitel des Epheserbriefes sowie den Bericht von der Teufelsaustreibung und die Seligpreisung derjenigen, «welche das Wort Gottes hören und bewahren», aus Lukas 11, 14–28. Bach lässt die von diesem anspielungsreichen Text ausgelöste Spannung und Sorge in einem Arioso kulminieren, das zur Vereinigung mit Christi Geist auffordert und da-her trotz des fliessenden Gestus das Kreuz und die Dornen dieses Weges hörbar macht.
4. Arie (Sopran)
Komm in mein Herzenshaus,
Herr Jesu, mein Verlangen!
Treib Welt und Satan aus,
und laß dein Bild in mir erneuert prangen!
Weg, schnöder Sündengraus!
4. Arie
Wer Jesus liebt und sein Wort hält, zu dem werde Jesus kommen und «Wohnung bei ihm machen» (Johannes 14, 23). Sopran und Continuo entfalten in ei-nem auf das Nötigste reduzierten Satz eine entschlossene Haltung des inbrünstigen Heilandsverlangens und der entschlossenen Abwendung von Welt und Sünde. Der schwebende 12 ⁄8-Takt und die abwärtsgerichtete Linienführung fungieren als Zeichen der Demut und kindlichen Ergebung.
5. Choral
Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollten uns verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie saur er sich stellt,
tut er uns doch nicht,
das macht, er ist gericht’,
ein Wörtlein kann ihn fällen.
5. Choral
Der dritte Vers aus Psalm 56 hat Luther zu dieser Strophe angeregt: «Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken.» Das von Bach äusserst selten verwandte Mittel des Unisonogesangs aller Chor-stimmen verleiht dem Satz eine ausserordentliche Geschlossenheit; die majestätische Einigkeit der Aussage wird durch den kriegerischen Tanzduktus des Orchestersatzes noch unterstrichen. Dass Luthers Choräle einmal echte Kampflieder in Verfolgung und Konfessionsstreit waren, wird hier unmittelbar greifbar.
6. Rezitativ (Tenor)
So stehe dann
bei Christi blutgefärbten Fahne,
o Seele, fest
und glaube, daß dein Haupt dich nicht verläßt,
ja, daß sein Sieg
auch dir den Weg zu deiner Krone bahne!
Tritt freudig an den Krieg!
Wirst du nur Gottes Wort
so hören als bewahren,
so wird der Feind gezwungen auszufahren,
dein Heiland bleibt dein Hort.
6. Rezitativ
Das Rezitativ nimmt Gedanken aus Nr. 3 nochmals auf mit dem Bild vom Soldaten Christi, der unter der Fahne seines Herrn den Kampf des Glaubens kämpft und darauf vertraut, dass der Heiland ihn nicht verlässt. Bach schreibt dafür eine pathetische Rezitation mit einigen Schwertstreichen und Kartaunenschüssen in Singstimme und Basso.
7. Arie (Duett Alt, Tenor)
Wie selig sind doch die, die Gott im Munde tragen,
doch selger ist das Herz, das ihn im Glauben trägt!
Es bleibet unbesiegt und kann die Feinde schlagen
und wird zuletzt gekrönt, wenn es den Tod erlegt.
7. Arie (Duett Alt, Tenor)
Es geht um das ehrliche Bekenntnis des Glaubens. Wer getreu ist bis in den Tod, der wird «die Krone des Lebens» erhalten. Nach all den Kriegsklängen erscheint die luftige Reihungsform dieses Duetts als inniger Höhepunkt der Kantate. Der ruhig fliessende Dreiertakt und die aparten Klangfarben von Oboe da caccia und Solovioline bereiten den eng zusammengerückten Zwiegesang von Alt und Tenor vor, der dem Herzens-glauben vor dem äusserlichen Bekenntnis den Vorzug gibt. Nach einem erneut schlagkräftigen Zwischenabschnitt gewährt die Musik einen hoffnungsvollen Vor-blick auf die Überwindung auch des Todes.
8. Choral
Das Wort sie sollen lassen stahn
und kein Dank dazu haben.
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie uns den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib,
laß fahren dahin,
sie habens kein Gewinn;
Das Reich muß uns doch bleiben.
8. Choral
Als Schlusschoral dient die vierte und letzte Strophe des Lutherliedes. Was auch immer geschehen möge, das Wort Gottes soll alleinige Richtschnur in Glaubenssachen bleiben. Nach Motette, verziertem Liedzitat und Unisono-Schlachtgesang erklingt der Choral nun noch in seiner klassischen Form als vierstimmiger Kantionalsatz.
Johannes Anderegg
«Eine feste Burg» – Gedanken zu den Texten der Kantate BWV 80
Martin Luther: standfest
Luthers Zeit ist eine kriegerische Zeit. In der Erfahrung von Kampf und Bedrohung gründet Luthers Religiosität, und aus der Erfahrung von Krieg und aus dem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit erhält das Bild Gottes in Luthers Lied seine besondere, konkret räumliche Prägung: eine feste Burg. Gott als sichernde, als bergende Burg – das Bild stammt aus den Psalmen, aus Psalmen, die ihrerseits sich auf die Erfahrung von Krieg und Not beziehen. Schon Ps 9 – er kann auch als Dankpsalm gelesen werden, denn der «Feind ist zunichte, für immer in Trümmern» (V. 7) – fasst das Gottvertrauen ins Bild von Gott als einer «Burg in der Zeit der Not» (V. 9, 10), und der Sänger von Ps 46 weiss, dass Gott «den Kriegen Einhalt gebietet» und versichert: «Der Herr der Heerscharen ist mit uns, / eine Burg ist uns der Gott Jakobs.» (V. 8, 10, 12)
Luthers Liedtext (die Strophen 1, 5, 8 und Teile von Strophe 2 der Kantate) erinnert daran, dass die Bedrohungen, denen sich Luther und seine Gefährten ausgesetzt sahen, durchaus real und vielfältig waren. Kriegerische Auseinandersetzungen bedrohen in Deutschland «Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib». Eine ständige Bedrohung, zum Teil als Folge der Kriege, sind die grassierenden Krankheiten, die Seuchen, insbesondere die Pest. Und bedroht werden Luther und die ihm Nahestehenden von der papsttreuen Kirche, die die neue Lehre verwirft und ihre Macht erhalten will und die sich zu diesem Zweck mit weltlichen Machthabern verbündet.
Die Bedrohungen durch die Feinde und durch das Feindliche begreift Luther in seinem Lied – diesbezüglich ist er noch vom mittelalterlichen Denken geprägt – als Manifestationen des einen alten Bösen, des Teufels. Als Inbegriff alles Bösen ist der Satan der «Fürst dieser Welt» – eine Bezeichnung, die Luther aus dem Evangelium des Johannes (Joh 16, 11; 12, 31) übernimmt und die sich ähnlich auch in Paulus’ Brief an die Epheser findet (Eph 2, 2; 6, 11); sie zeugt nicht nur von der Mächtigkeit des Bösen, sondern auch vom schlimmen Zustand der Welt. Dass dem «Fürsten dieser Welt» aus der Burg Einhalt geboten werden soll und kann – davon handelt Luthers Lied.
Die Geschichte lehrt uns – und Luther weiss aus eigener Erfahrung – , was mit Burgen geschehen kann. Nicht erst heute, sondern schon zu seiner Zeit erheben sich überall im Lande als schreckliche Mahnmale die Ruinen von geschleiften, ausgeräucherten Burgen. Darum ist Luther in seinem Lied genauer: Gott ist ihm eine «feste Burg», eine nicht einnehmbare «Feste», in der Sprache von heute: eine Festung.
Die Funktion einer Festung ist damals wie noch heute klar bestimmt: Sie dient nicht dem Angriff, sondern der Verteidigung, sie ist Ort des Widerstands und zugleich Schutzort, sie ist, so Luther, ein «Wehr», sie wehrt Angriffe ab. Als Trutzburg trotzt sie dem mit «groß Macht und viel List» anstürmenden Feind. In seinem Lied sieht Luther sich und die mit ihm sind, denn auch nicht als Angreifer, sondern als die, die bedroht werden; und er sieht sich als Verteidiger, nämlich als energischer Verteidiger des Christentums – seines Christentums –, und das heisst für ihn: als Verteidiger der Heiligen Schrift, von der her allein das Christentum zu verstehen und zu realisieren sei – ein Grundsatz, den die Papstkirche ebenso energisch bekämpft. Darum hält er den Feinden entgegen: «Das Wort sie sollen lassen stahn».
Man mag Luthers Lied als ein Kampflied verstehen, aber als solches fordert es nicht zur Aggression auf, sondern demonstriert die Zusammengehörigkeit und die Standfestigkeit der Gläubigen in der Aufrechterhaltung des Glaubens. Zur festen Burg gehört die Standfestigkeit ihrer Verteidiger. Vorbild solcher Standfestigkeit ist die von der stoischen Philosophie geforderte Haltung. Von der Festigkeit im Glauben handelt Luther auch in anderen Schriften, beispielsweise in seiner Abhandlung Von der Freiheit des Christenmenschen; in dem Luther zugeschriebenen Ausspruch «Hier stehe ich, ich kann nicht anders» ist sie sprichwörtlich geworden, und in manchen späteren Glaubensversicherungen erweist sie sich als Kernaussage, so in einem eindrücklichen Vers der protestantischen Mystikerin Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694): «Ich stehe Felsen-fest in meinem hohen hoffen».1
Wer je sich in einer Festung aufgehalten hat, weiss es: In einer Festung ist es eng; es gibt da kaum Raum für Bewegung, es gibt keinen Spielraum. Die eng gezogenen Mauern bieten Schutz, gerade weil sie eingrenzen und mit Härte ausgrenzen. Eine solche Härte der Grenzziehung – sie äussert sich schon in der exkludierenden Formulierung «unser Gott» – ist für Luthers Festigkeit im Glauben und für sein theologisches System grundlegend. Beispielhaft erhellt die kompromisslose Ein- und Ausgrenzung aus den vier lateinisch und schlagwortartig formulierten (und deshalb auch oft missverstandenen) Glaubenssätzen, die auch den Charakter des Choraltexts bestimmen: Im Zentrum steht für Luther allein Jesus Christus (solus Christus): «der Herre Zebaoth»2. Die Grundlage dafür ist allein «das Wort», die Heilige Schrift (sola scriptura), deren einzelne Bücher Luther allerdings durchaus unterschiedlich gewichtet. Das Heil kann nicht erworben, sondern nur von Gottes Gnade erwartet werden (sola gratia), und auf sie vertraut der unbedingte Glaube (sola fide), der den gesamten Liedtext grundiert.
Luthers eindrückliche Glaubensgewissheit, die im letzten Vers besonders prägnant zu Wort kommt – «Das Reich muss uns doch bleiben» –, bezieht sich freilich ausschliesslich auf einen Sieg im Geistigen. Das «Reich», das den Glaubenden bei allen weltlichen Schrecknissen und Verlusten bleibt, ist nicht von dieser Welt. Aus heutiger Sicht ist diese Ausschliesslichkeit in der Ausrichtung auf das Geistige nicht leicht nachzuvollziehen: Sie lässt zwar ein individuelles soziales Verhalten zu, aber ein sozialpolitisches und ein institutionelles Engagement für die Schwachen und für die Unterdrückten schliesst sie aus. So versagt Luther, um das in diesem Zusammenhang wohl bekannteste Beispiel zu nennen, den Bauern, deren Aufstand gegen die Unterdrücker zweifellos durch seine reformatorische Lehre ausgelöst wurde, die Unterstützung. Und da sich sein Begriff der Freiheit eines Christenmenschen auf das «Reich Christi», nicht aber auf das «Reich der Welt» bezieht, fordert er schliesslich im Namen des Christentums von der Obrigkeit sogar die Bestrafung der Anführer. Ebenso hart geht er gegen die Wiedertäufer vor, deren Bewegung ohne die neue Lehre ebenfalls nicht hätte entstehen können. In mancherlei Hinsicht und insbesondere mit seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche hat Luther Tore zur Neuzeit aufgestossen; aber sein Kampf für die Durchsetzung seiner Lehre, seines theologischen Systems, sein unbedingtes Verlangen 9 nach einem eindeutigen Glaubensbekenntnis und die Ausgrenzung derer, die er nicht als Christen anerkennen will, erinnern an die mittelalterlich anmutenden Methoden jener Kirche, von der er sich im Namen des Christentums losgesagt hat. Es wird nach Luther noch viele hundert Jahre dauern, bis die Kirchen bereit sind, die im Ersten Brief an die Korinther formulierte Mahnung ernst zu nehmen – «wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts»3 – und das Engagement für die Schwachen und Unterdrückten als ihre christliche Verpflichtung anzuerkennen.
Salomo Franck: mahnend
Bach hat für seine Kantate Ein feste Burg ist unser Gott das musikalische Thema und den Choraltext von Luther übernommen, den Text allerdings mit Erweiterungen, die aus der Feder von Salomo Franck (1659–1725) stammen. Salomo Franck, Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothek in Weimar, Gelegenheitsdichter und Verfasser geistlicher Gedichte, hat für Johann Sebastian Bach, der von 1708 bis 1717 ebenfalls am Weimarer Hof tätig war, zahlreiche Kantatentexte verfasst. Er ist nicht zu verwechseln mit August Hermann Franck (1663–1727), der in den gleichen Jahrzehnten in Halle, dem pietistischen Zentrum, tätig war und der wegen seines vielfältigen sozialen Engagements, insbesondere im Bereich des Schulwesens, Bekanntheit und Anerkennung gewonnen hat.
Salomo Franck hatte seinen Text eigentlich für eine Kantate zum dritten Sonntag der Passionszeit – mit lockeren Bezügen zu den entsprechenden Perikopen4 – konzipiert und ihn mit Versen aus Luthers Choral abgeschlossen. Aspekte des Luthertexts klingen in Francks Versen nach, aber er modifiziert sie, und manches verflacht er, grade indem er es zuspitzt. Anders als Luther spricht er explizit und wiederholt vom «Krieg», vom «Kriege wider Satans Heer und wider Welt», aber dieses Heer des Satans meint nicht äussere Feinde, vielmehr soll es aus dem Herzen vertrieben werden. Luthers Gewissheit, dass den Glaubenden das «Reich» bleibe, transformiert Franck in die Rede von «Sieg» und «Siegen»5, nicht ohne seinerseits zu verdeutlichen, dass der Sieg ein Sieg nicht in der Welt, sondern «im Geiste» sei. Mit der zwölfmaligen Wiederholung des Pronomens «uns» bzw. «unser» im Liedtext Luthers versichern die singenden Gemeindemitglieder sich ihrer Gemeinschaft im Glauben; Franck individualisiert und dramatisiert die Entstehung dieser Gemeinschaft und verspielt damit die gemeinschaftsbildende Kraft von Luthers Sprache: «Siegen» wird, wer «bei Christi Blutpanier / in der Taufe Treu geschworen». Die Metaphorik irritiert: zum einen, weil Jesus in der Bergpredigt das Schwören (beim Himmel und bei der Erde) generell verbietet (Mt 5, 34), zum andern, weil Franck die Passion Christi zu einem Kriegszeichen – zum «Blutpanier», später zur «blutgefärbten Fahne» – stilisiert, und schliesslich, weil ein Täufling schwerlich schwören kann, es sei denn, es handle sich um einen der Wiedertäufer, die Luther bekanntlich mitleidslos bekämpft hat.
Eine andere Akzentverschiebung gegenüber dem Text von Luther vollzieht Franck, indem er, auf Eph 5, 1–8 anspielend, moralisierend und auch hier individualisierend zum Kampf gegen Sünde und Laster und zur Reue aufruft: «Gib nicht in deiner Seele / dem Satan und den Lastern statt!» Hält man sich an Francks Verse – «Bereue deine Schuld […], daß Christi Geist mit dir sich fest verbinde!» –, so ist Nähe zu Christus nicht wie bei Luther durch den Glauben, sondern durch Reue zu gewinnen.
Salomo Franck hatte gewiss nicht die Absicht, Luthers Theologie in Frage zu stellen, aber die Religiosität, die in seinen Versen zu Wort kommt, hat eine andere Prägung als die Religiosität Luthers. Die Sprache Francks wird aus unterschiedlichen Quellen gespeist, sie wirkt darum stilistisch uneinheitlich und – verglichen mit der kraftvollen Bild-Sprache Luthers – recht unbeholfen. Von der Kriegsmetaphorik im zweiten Satz der Kantate gelangt Franck unvermittelt zu den Begriffen «Liebe», «Seele» und «Herz», die die sprachprägende Bewegung des Pietismus zu Leitbegriffen gemacht hat; mit der Verlagerung der Religiosität in die subjektive Innerlichkeit gehört diese zu den wichtigsten Reformbewegungen innerhalb des Protestantismus. In der Ausrichtung auf die Begriffe «Liebe», «Seele» und «Herz» manifestiert sich aber nicht nur eine veränderte Religiosität, ein stärker gefühlsbetonter Christusglaube, sondern auch ein allgemeiner kultureller Wandel, dessen erste säkulare Phase als Zeit der «Empfindsamkeit» in die Kulturgeschichte eingegangen ist.
Noch augenfälliger wird die konzeptionelle Differenz zwischen den Texten von Luther und von Franck im vierten Teil der Kantate, denn hier stülpt Franck Luthers grundlegendes Glaubensbild schlichtweg um: Statt von Gott als einer festen Burg ist nun in der Sprache der Innerlichkeit vom «Herzenshaus» die Rede und vom «Verlangen» nach Jesus, der ins «Herzenshaus» einziehen und «Welt und Satan» daraus vertreiben möge. Francks Fixierung auf das Problem der Sündhaftigkeit verdeckt dabei fast, dass er in diesen Versen die Metaphorik der mystischen Tradition aufnimmt. So hat beispielsweise zu Beginn des 17. Jahrhunderts der katholische Mystiker Friedrich Spee in vielen seiner Gedichte, die sich als eigentliche Liebesgedichte lesen lassen, das «Verlangen» der Seele nach ihrem geliebten Jesus thematisiert.6 Grundlage für die Darstellung der Beziehung der Seele zu Jesus als einem Liebesverlangen ist die Sprache des Hohen Lieds, dessen christliche Ausdeutungen die Erotisierung der religiösen Metaphorik legitimiert haben.7
Barthold Brockes: dankbar
Die Zeit, in der Franck für Bach geistliche Texte schreibt, die sogenannte frühe Aufklärungszeit, ist, anders als die Zeit Luthers, eine vergleichsweise friedliche Zeit. Das Recht, individuell nach dem weltlichen oder religiösen Glück zu streben, findet zunehmend Anerkennung, und eine allgemeine Subjektivierung der Lebensauffassung gewinnt an Bedeutung. Das Interesse an dogmatischen Auseinandersetzungen lässt nach; auch innerhalb des Protestantismus können Positionen, die von der lutherischen Orthodoxie abweichen, einigermassen frei artikuliert werden, wenn nicht von der Kanzel herab, so doch in der religiösen Dichtung. Während Franck zwar von Luther abweicht, aber in seinen Versen weder sprachlich, noch theologisch den Rahmen des zu seiner Zeit Konventionellen sprengt, beschreiten nun andere sowohl sprachlich wie theologisch neue Wege. Wie Gegentexte zu den Versen von Luther und Franck lesen sich beispielsweise die religiösen Gedichte eines heute kaum mehr bekannten, aber damals ungewöhnlich erfolgreichen, ebenfalls protestantischen Dichters: In den Gedichten von Barthold Hinrich Brockes’ (1680–1747), die dieser unter dem programmatischen Titel Irdisches Vergnügen in Gott veröffentlicht hat, ist weder von Kampf, Krieg oder Bedrohung, noch von Sünde oder Satan die Rede. Sein grosses Thema ist die Bewunderung der Natur und überhaupt die Herrlichkeit und die Harmonie der Schöpfung, in der er die Allgegenwart Gottes manifestiert sieht. Als Geschöpf ist auch der Mensch Teil der bewundernswürdigen Schöpfung: Brockes bringt den Menschen deshalb weder als sündhaft, noch als der Rettung bedürftig ins Bild. Seine Gedichte – Gegenbilder zu Luthers Verachtung der Leiblichkeit – erinnern die Menschen vielmehr an das Glück ihres Daseins, für das sie dem Schöpfer Dank und Ehre schulden. Es ist diese Sprache dankbarer Weltzugewandtheit, in der sich auch Bach bewegt, wenn er Grundzüge seiner Musik kommentiert: Der Generalbass, erläutert er beispielsweise, erzeuge eine «wohlklingende Harmonie […] zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüts».8
Johann Sebastian Bach
In der Musikgeschichte ist immer wieder davon die Rede, dass Bach bei seinen Vertonungen den jeweiligen Text sehr ernst nehme, ihn musikalisch abbilde, ihn illustriere oder kommentiere. Auch aus der Kantate Ein feste Burg ist unser Gott lassen sich dafür Beispiele anführen: So mag man den Auftakt des Orchesters als musikalischen Ausdruck von Siegesgewissheit wahrnehmen und das Tempo oder die Heftigkeit der Streicher im zweiten und fünften Satz mit der Kampfthematik in Verbindung bringen; und die Sopranarie betone, so ist zu lesen, den «subjektiven Aspekt des Sieges Jesu über den Satan»9. Kein Zweifel, Bachs Kantate umspielt ausgewählte Begriffe oder Themen, die dadurch tonangebend werden. Aber die Divergenz der Textteile und die Verschiedenheit der Religiosität, die sich in ihnen manifestiert, bekümmern den Komponisten nicht; bekanntlich ist denn auch eine der grössten Kompositionen des protestantischen Komponisten eine katholische Messe. Bachs Musik ist, wie die Musik überhaupt, keine begriffliche Kunst, sie ist sehr viel mehr als eine Illustration sprachlicher Bilder, und sie behauptet über dem Text oder jenseits des Texts ihr eigenes Da- und Sosein. Und anders als die Texte, die sie umspielt, fordert sie kein Bekenntnis.
Gewiss, so wie den religiösen Texten, die Bach in der Kantate vertont, liegt auch seinen Kompositionen ein System zu Grunde; in der Polyphonie, im Generalbass, in der Fuge wird es hörbar. Aber seine Komposition lebt davon, dass dieses System ein ungeheuer variantenreiches Spiel nicht nur zulässt, sondern fordert. Die Kantate Ein feste Burg ist unser Gott macht das nicht weniger hörbar als die Goldbergvariationen. Insofern eignet ihr bei aller Ernsthaftigkeit ein Zug ins Spielerische.
Von Friedrich Schiller stammt der Satz, es sei der Mensch nur da «ganz Mensch», wo er spiele. Dieses Spielen, wie es Schiller versteht, bedarf keiner Begründung, und es unterliegt weder dem «materiellen Zwang der Naturgesetze», noch dem «geistigen Zwang der Sittengesetze». Es beruht zwar jeweils auf Spielregeln, aber es ist «von den Fesseln jedes Zwecks, jeder Pflicht, jeder Sorge frei».10 So zielt Schillers Begriff von «Spiel» nicht etwa auf sportliche Betätigung, wohl aber auf den besonderen Status künstlerischer und musikalischer Werke und auf deren Rezeption. Mir scheint, dass die Musik Bachs, dass sein musikalisches Spiel, an dem wir musizierend oder hörend teilnehmen, dem Spiel, wie es Schiller versteht, sehr nahe kommt und besser als alle theologischen Systeme ahnen lässt, was es heisst, «ganz Mensch» zu sein.
1 Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte, Nürnberg 1662, (Nachdruck Darmstadt 1967), S. 37.
2 Im AT für Jahwe (Herrscher), im NT nur in Röm 9, 29 und Jak 5, 4.
3 1 Kor 13, 2.
4 Insbesondere zu Eph 5, 1–8.
5 Die beiden ersten Verse der 2. Strophe (die Anfangsverse in Franks ursprünglichem Kantatentext) sind eine etwas banalisierende Version von 1 Joh 5, 4.
6 Friedrich Spee: Trutznachtigall, hg. von Gustave Otto Arlt, Halle 1936. Erstdruck: Köln 1649.
7 Auch Luther hat die Thematik ‹Christus als Bräutigam der Seele› aufgenommen:
Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Luthers Werke in Auswahl, hg. von Otto Clemen, (BoA), Berlin 1967, Bd. II, S. 15.
8 Johann Sebastian Bach: Vorschriften und Grundsätze zum vierstimmigen Spielen […],Leipzig 1738.
9 So der Kommentar von Andreas Bomba zur Aufnahme des Bach-Ensembles unter Helmuth Rilling, CD 92.026.
10 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, München 1960, Bd. 5, S. 618.