Erfreute Zeit im neuen Bunde
BWV 083 // zu Mariae Reinigung
für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Corno I + II, Oboe I + II, Violino concertato, Streicher und Basso continuo
Die Evangelienlesung zum Fest «Mariae Reinigung» oder «Darstellung des Herrn» (Lukas 2, 22-32) berichtet nur kurz über die nach mosaischem Gesetz vorgeschriebene Zeremonie der kultischen Reinigung und der Darstellung des Erstgeborenen im Tempel und widmet sich ausführlicher dem gottesfürchtigen greisen Simeon und seinem Lobgesang. Simeon hatte vom heiligen Geist die Zusage empfangen, dass er den Tod nicht sehen werde, bevor er den Messias gesehen habe, und darf nun das Jesuskind in die Arme nehmen. – Im Zusammenhang mit der am 2. Februar stattfindenden Kerzenweihe wird der Tag auch «Mariae Lichtmess» genannt. Entsprechend räumen das Kantatenlibretto und seine Vertonung dem berühmten Canticum Simeonis («Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren») breiten Raum ein.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Jan Börner
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Yuko Ishikawa, Elisabeth Kohler, Ildikó Sajgó, Eva Saladin, Anita Zeller
Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Martina Zimmermann
Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Katharina Arfken, Dominik Melicharek
Fagott
Susann Landert
Corno
Olivier Picon, Thomas Müller
Orgel
Nicola Cumer
Cembalo
Dirk Börner
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Cornelia Kazis
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
20.02.2015
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1, 3, 4
unbekannter Verfasser
Textdichter Nr. 2
unbekannter Verfasser und Lukas 2, 29-31
Textdichter Nr. 5
Martin Luther, 1524 (nach Lukas 2, 32)
Erste Aufführung
Fest Mariae Reinigung,
2. Februar 1724
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die für den Tag Mariä Reinigung (2. Februar) 1724 entstandene Kantate BWV 83 bezieht sich in ihrer Textgestaltung wesentlich auf die Geschichte des greisen Simeon, der erst nach der Begegnung mit dem Jesuskind sterben konnte und darum als Exempel frommer Jenseitsbereitung galt. Das von ihm dabei nach dem Lukasevangelium angestimmte «Canticum Simeonis» («Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren») durchzieht daher fast alle Sätze unseres Werkes.
Von dieser demütigen Ausrichtung, die sich auch in der reduzierten Vokalbesetzung der Kantate widerspiegelt, weicht die Eingangsarie in bemerkenswerter Weise ab. Mit zwei zusätzlichen Hörnern sowie einer Solovioline ausgestattet und daher der Faktur des 1. Brandenburgischen Konzerts nicht unähnlich, beginnt sie mit strahlenden Concertoklängen und weitet so die Simeon gegebene Zusage zum Festgesang der ganzen christlichen Gemeinde, die mit dem neugeborenen Jesuskind in die Welt trat: «Erfreute Zeit im Neuen Bunde, da unser Glaube Jesum hält.» Dass die virtuos durch die Lagen eilende Violine dabei in einer an die Kantate BWV 1 erinnernden Weise das Funkeln des göttlichen Morgensterns evoziert, passt zu der noch von der Epiphanias-Freude überstrahlten Komposition. Der von der «Ruhestatt des Grabes» redende Mittelteil beginnt dann kontrastierend im Pianissimo und bildet verinnerlichte Züge aus, ehe das Dacapo den Glanz höfischen Konzertierens zurückbringt und damit den kleinen Jesusknaben als veritablen Himmelskönig darstellt.
Die folgende Arie greift zwar auf den Referenztext des Evangeliums zurück, erweist sich jedoch als neuerlicher Bruch mit jedweder Hörerwartung. Findet sich doch die Bassstimme in eine zweipolige Rahmenstruktur aus Continuo und Unisonostimme sämtlicher Streicher eingepasst, deren symbolisch zu verstehende Aufstiegsbewegung als strenger Oktavkanon ausgebildet ist. Die Singstimme wiederum hebt unter Verzicht auf jede solistische Diktion mit dem gregorianischen Rezitationston an, was den Simeonsgesang als besonders ehrwürdiges Erbe heraushebt. Überraschend wird in diese hermetische Struktur eine rezitativische Interpolation eingeschaltet, die die uralte Botschaft für die Hörer der Bach- Zeit aktualisiert und dabei immer wieder von ariosen Wendungen und Kanoneinschüben unterbrochen wird, ehe der zweite Teil des Bibeldictums («Denn deine Augen haben deinen Heiland gesehen») zur archaischen Satzweise zurückkehrt. Bach hat sich hier hörbar einiges an Disziplin auferlegt, um seinen Respekt vor dem biblischen Lied auszudrücken.
Ganz der moralischen Reflexion gewidmet ist der folgende Satz, der als weitere Arie für Tenor, Violino solo und Streicher angelegt ist. Im Gestus einer geschwinden Bourrée ergeht sich die Sologeige über munteren Zweitonfolgen des Orchesters in federleichten Triolen, die das freudige «Eilet!» des Tenors wirkungsvoll in Szene setzen. In dessen heroischem Auftritt steht weniger die Todessehnsucht Simeons, sondern die zu kraftvollen Glaubenstaten anstiftende Gnadengewissheit im Vordergrund.
Was sich in dieser Trostmusik an kummervollen Aspekten nur angedeutet fand, wird im folgenden Altrezitativ offen ausgesprochen. Die Finsternis des Grabes und der zweifelnden Gottesferne bekommt zunächst viel szenischen Raum, ehe das «helle Licht» auch die letzte Stunde des Todes mindestens erträglich macht.
«Er ist das Heil und selig Licht» – in ihrem Rückgriff auf archaische Vorlagen bleiben sich Bach und sein Librettist treu, indem sie die Kantate mit der vierten Strophe von Luthers Liednachdichtung des Canticum Simeonis beschliessen. Dass der abschliessende Lobpreis «Er ist seines Volks Israel der Preis, Ehr, Freud und Wonne» entsprechend eher dunkel-verbindlich als überschwenglich jubelnd ausfällt, rundet das Bild einer Kantate ab, die in ihrer Spannung zwischen modernem Concerto- und Suitenstil sowie altkirchlicher Traditionsgebundenheit auch für Bach‘sche Verhältnisse weite Entfernungen überbrückt.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Arie (Alt)
Erfreute Zeit im neuen Bunde,
da unser Glaube Jesum hält.
Wie freudig wird zur letzten Stunde
die Ruhestatt, das Grab bestellt!
1. Arie
Das Vertrauen Simeons, dass er nun in Frieden sterben könne, nachdem er den Heiland gesehen habe, dürfen in der «erfreuten Zeit» alle gläubigen Christen haben und sie müssen sich vor der «letzten Stunde» nicht fürchten. Bachs typische «Seelenstimmlage» Alt wird dabei in einen ausgedehnten und reichen Konzertsatz des Orchesters eingebettet, der durch die hinzugefügten Hörner und eine Solovioline himmlischen Glanz und eine entzückte Beweglichkeit erhält. Charakteristische Tonwiederholungen der Violine im Mittelteil könnten dabei einer Beobachtung Alfred Dürrs zufolge über die geigerische Virtuosität hinaus der Darstellung des Sterbeglöckchens dienen.
2. Arie und Rezitativ (Bass)
»Herr, nun lässest du deinen Diener in Friede fahren,
wie du gesaget hast.«
Was uns als Menschen schrecklich scheint,
ist uns ein Eingang zu dem Leben.
Es ist der Tod
ein Ende dieser Zeit und Not,
ein Pfand, das uns der Herr gegeben
zum Zeichen, daß er’s herzlich meint
und uns will nach vollbrachtem Ringen
zum Frieden bringen.
Und weil der Heiland nun
der Augen Trost, des Herzens Labsal ist,
was Wunder, daß ein Herz des Todes Furcht vergißt?
Es kann erfreut den Ausspruch tun:
»Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen,
welchen du bereitet hast für allen Völkern.«
2. Arie und Rezitativ
Eingeleitet und wiederum abgeschlossen mit Worten Simeons werden diese Gedanken entfaltet. Der Tod ist «Eingang zu dem Leben» und lässt das Herz die Todesfurcht vergessen. Bach lässt den vom Continuo begleiteten Bassisten das biblische Canticum im gregorianischen VIII. Psalmton vortragen; die dazu tretende Unisono-Stimme sämtlicher Streicher rückt den Satz in die Nähe der Choral-Trios seiner «Schübler-Choräle» (vor allem BWV 648). Das im Zentrum stehende Rezitativ deutet hingegen die simeonischen Verse vom seligen Sterben in verinnerlichter Weise aus, wobei die Streicher-Zwischenspiele dem kontrastreichen Satzgebilde Einheit verleihen.
3. Arie (Tenor)
Eile, Herz, voll Freudigkeit
vor den Gnadenstuhl zu treten,
eile, voller Freudigkeit
vor den Gnadenstuhl zu treten!
Du sollt deinen Trost empfangen und Barmherzigkeit erlangen,
ja, bei kummervoller Zeit,
stark am Geiste, stark, ja
stark am Geiste kräftig beten.
3. Arie
Der Text ist die paraphrase einer Stelle aus dem Hebräerbrief (4, 16). Mit dem Gnadenstuhl ist der Thron Christi, eines barmherzigen Herrn, gemeint. In der Kunstgeschichte werden die mittelalterlichen Bildnisse der Dreieinigkeit, welche Gott Vater, den Sohn und den Heiligen Geist zusammen auf einem Thron darstellen, Gnadenstuhl genannt. Bach hat dafür eine beschwingte Musik entworfen, deren kompakter Orchestersatz durch die triolischen Textdeutungen des Tenors («Eile») und die davon abgeleitenen Figurationen der Solovioline wirkungsvoll belebt wird.
4. Rezitativ (Alt)
Ja, merkt dein Glaube noch viel Finsternis,
dein Heiland kann
der Zweifel Schatten trennen;
ja, wenn des Grabes Nacht
die letzte Stunde schrecklich macht,
so wirst du doch gewiß
sein helles Licht
im Tode selbst erkennen.
4. Rezitativ
Die Dichtung nimmt den letzten Vers des Evangeliums auf vom «Licht zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel». Dabei erhalten gerade die dunklen Schlüsselworte «Finsternis», «Tod» und «Grabes Nacht» eine besondere harmonische Färbung.
5. Choral
Er ist das Heil und selig Licht
für die Heiden,
zu erleuchten, die dich kennen nicht,
und zu weiden.
Er ist deins Volks Israel
der Preis, Ehr, Freud und Wonne.
5. Choral
Auch im Schlusschoral bildet das «helle Licht» nochmals das Stichwort. Es handelt sich um die vierte Strophe des Liedes, das Martin Luther nach dem Lobgesang des Simeon («Nunc dimittis») gedichtet hat: «Mit Fried und Freud fahr ich dahin». Bachs sparsam-strenger Choralsatz lässt die archaische Melodik des frühreformatorischen Liedes besonders wirksam hervortreten.