In allen meinen Taten

BWV 097 // ohne liturgische Bestimmung

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Fagott, Streicher und Continuo

Die Kantate «In allen meinen Taten» geht auf ein Lied des genialen Barockdichters Paul Fleming (1609–1640) zurück, dessen allzu kurzer Lebenslauf ihn vom erzgebirgischen Hartenstein über Leipzig, Russland und Persien bis nach Hamburg und in die Grafschaft Holstein führte. Als Autograph auf das Jahr 1734 datiert, gehört sie zu einer Gruppe von vier festlich dimensionierten Kirchenstücken ohne Bindung an das Kirchenjahr, denen ausschliesslich der Choraltext «Per omnes versus» zugrunde liegt. Entsprechend sind die Einzelsätze nicht als Rezitativ oder Arie, sondern als «Versus 1» bis «Versus ultimus» bezeichnet, wobei der Strophenbau des Liedes mit seinen zwei dreizeiligen Stollen erhebliche Konsequenzen für die jeweilige Binnenstruktur zeitigte. Marc-Roderich Pfau hat für diese Werkgruppe jüngst eine Bestimmung für den Weissenfelser Hof ins Gespräch gebracht, dem Bach seit 1729 als Titularkapellmeister «von Haus aus» verbunden war, ohne dass dafür musikalische Gegenleistungen bekannt waren. Hinweise in der Quelle deuten zudem auf eine spätere Wiederverwendung als Trauungsmusik.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 97

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Monika Mauch

Alt/Altus
Ruth Sandhoff

Tenor
Daniel Johannsen

Bass
Klaus Mertens

Chor

Sopran
Susanne Frei, Leonie Gloor, Noëmi Tran-Rediger, Damaris Nussbaumer

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Simon Savoy, Francisca Näf

Tenor
Walter Siegel, Nicolas Savoy, Manuel Gerber

Bass
Manuel Walser, Philippe Rayot, William Wood

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Fanny Tschanz, Christine Baumann, Sylvia Gmür, Martin Korrodi, Olivia Schenkel

Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Kerstin Kramp, Diego Nadra

Fagott
Susann Landert

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Kerstin Odendahl

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
18.03.2011

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Paul Fleming, 1633

Entstehungszeit
1734

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Der Eingangschor ist als zweiteilige Ouvertüre für Orchester angelegt, in dessen fugiertes Vivace der von bewegten Vorimitationen begleitete Liedvortrag des Soprans eingebettet ist. Eine längere Trioepisode für zwei Oboen und Continuo lässt an eine originäre Vorlage nur für Orchester denken; dafür hat Bach dem vollständigen Choralvortrag noch eine ariose Coda aller vier Singstimmen über die letzte Liedzeile angefügt, die den elegant federnden Ton des Satzes verstärkt.

Der zweite Choralvers ist im Kontrast dazu als Duo für Bass und Continuo angelegt, dessen Linie der Gigue einer der Bach‘schen Cellosuiten entsprungen sein könnte, würde nicht die Vokallinie mit ihrem chansonartigen Duktus darauf in kantablem Sinne einwirken. Doch sind dem Satz trotz seiner eingängigen Sequenzen auch gelehrte und nach Bach‘scher Weise vertrackte Passagen eigen. Das folgende Tenorrezitativ behandelt den Liedtext als Prosavorlage ohne melodische Vorgabe, was dem kurzen Satz einen merkwürdig lakonischen Überleitungscharakter verleiht.

Demgegenüber hat Bach in der folgenden Arie für Tenor, Violine solo und Continuo nahezu schrankenlose Kunstmittel entfaltet, die sich trotz einzelner feinsinniger Wortdeutungen kaum auf den beschaulichen Strophentext «Ich traue seiner Gnaden» beziehen lassen. Über ruhig laufenden Basstönen exponiert die Sologeige mit ihren Mehrfachgriffen, Akkordbrechungen und wilden Kaskaden eine so ostentative Virtuosität, dass man an ein einem bestimmten Spieler auf den Leib geschriebenes paradestück denken möchte, wie es sich auch bei anderen barocken Meistern – etwa in geistlichen Kompositionen Antonio Vivaldis – findet. Eine spekulative Brücke liesse sich immerhin zu jener Passage im 119. Psalm spannen, die schon der Weissenfelser musikalische Ahnherr Heinrich Schütz zu seinem Grabspruch erkor und die im Einklang mit Bachs persönlicher Überzeugung nahelegt, dass eine besondere Kunsthaftigkeit als Ausweis der glaubenden Rechtfertigung des praktischen Musikers dienen kann («Deine Rechte sind mein Lied im Hause meiner Wallfahrt»).

Das wiederum nicht melodiegebundene Altrezitativ bekommt durch das Streicher-Accompagnato eine pathetische Tiefe, die dem im Liedgesang sonst eher durchlaufenden Sündenbekenntnis samt folgender Gerichtsverhandlung beträchtlichen Ernst verleiht. Daraus erwächst im Versus 6 ein zugleich altertümlich wie modern wirkendes Satzgebilde, dessen tänzerische Anklänge durch den kompakten synkopenbetonten Streichersatz sowie das sensible Nachzeichnen von Schlüsselworten wie «niederlegen» und «in Schwachheit und in Banden» ausbalanciert werden. Arbeitsame Fortspinnungen entsprechen dabei der protestantischen Tätigkeitsbezogenheit der Verse.

Das Sopran-Tenor-Duett wirkt mit seiner kapriziösen Linienführung und seinem versponnen- flüchtigen Gestus wie einer weltlichen Kammerkantate entsprungen. In der Einsatzfolge mit ihren teils überlangen Soloeinstiegen eigenwillig gebaut, scheint der Satz einem nicht völlig bewältigten Kompromiss zwischen dreiteiliger Da-capo-Form und zweiteiligem Chorallied zu entsprechen. Andere Töne schlägt der vorletzte Versus an, der über einem stützenden Bass zwei warm klingende Oboen ins Spiel bringt. Wie eine Opernarie des mitteldeutschen Barock verknüpft er Empfindungstiefe mit motivischer Effizienz, was im Zusammenspiel mit der eingängigen Sopranpartie bezaubernde Resonanzen ermöglicht, die an die Quattro-Sonaten eines Telemann oder Zelenka erinnern.

Der wieder dem Tutti-Ensemble übertragene Schlussvers entfaltet bereits im Text zusammenfassende Verbindlichkeit und ist von Bach als Kantionalsatz mit ariosen Durchgängen gestaltet. Gleich drei eigenständige Streicherstimmen verleihen ihm einen schimmernd-feierlichen Charakter und runden so eine Komposition ab, die im Tonfall sowie vielen Details jener in Richtung grösserer Fasslichkeit und Kantabilität gehenden Neuorientierung entspricht, die bereits zeitgenössische Beobachter wie Johann Abraham Birnbaum in Bachs rarem Kantatenschaffen der 1730er-Jahre ausmachten.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Kantate gehört zu jener kleinen Gruppe, welche als Text ein Kirchenlied verwenden und dabei sämtliche Strophen unverändert übernehmen. Paul Fleming hatte das Lied vor Antritt einer langen und gefahrvollen Reise gedichtet. Es enthält Strophen, welche speziell diesen Anlass betreffen; diese wurden später nicht mehr in die Gesangbücher aufgenommen und sind auch in der Kantate nicht enthalten. Die zugehörige Melodie («O Welt, ich muss dich lassen») verwendete Bach nur für den Eingangs- und den Schlusschoral. Die Strophen dazwischen setzt er ohne musikalischen Choralbezug als Arien, unterbrochen von zwei schlichten Rezitativen. Für welchen Anlass die Kantate bestimmt war, ist nicht überliefert. In Gesangbüchern der Zeit findet sich das Lied unter den Gesängen zur Trauung.

1. Chor

In allen meinen Taten
laß ich den Höchsten raten,
der alles kann und hat,
er muß zu allen Dingen,
solls anders wohl gelingen,
selbst geben Rat und Tat.

1. Chor
In der Art einer französischen Ouvertüre, mit der Feierlichkeit der typischen, punktierten Rhythmen eröffnet Bach die Kantate. Der Chor tritt erst im zweiten, fugierten Teil dazu, wobei der Sopran in langen Notenwerten die Choralmelodie zeilenweise vorträgt, umbrandet von einem bewegten Orchestersatz und den weiteren Chorstimmen.

2. Arie (Bass)

Nichts ist es spat und frühe
um alle meine Mühe,
mein Sorgen ist umsonst.
Er mags mit meinen Sachen
nach seinem Willen machen,
ich stells in seine Gunst.

2. Arie
Die Bassarie in g-Moll unterstreicht im Text die «Sorgen» und den Entschluss, alles in «seine Gunst» zu geben.

3. Rezitativ (Tenor)

Es kann mir nichts geschehen,
als was er hat versehen
und was mir selig ist;
Ich nehm es, wie ers gibet;
was ihm von mir beliebet,
das hab ich auch erkiest.

3. Rezitativ
Das Wort «erkiest» in der letzten Zeile bedeutet «ausgewählt», also als das Richtige anerkannt.
Das kurze Rezitativ des Tenors wirkt als Auftakt zur folgenden Arie, einem musikalischen Glanzpunkt der Kantate.

4. Arie (Tenor)

Ich traue seiner Gnaden,
die mich vor allem Schaden,
vor allem Übel schützt.
Leb ich nach seinen Gesetzen,
so wird mich nichts verletzen
nichts wird mich verletzen,
nichts wird mir fehlen,
nichts fehlen, was mir nützt.

4. Arie
Ein virtuoser Violinsolopart legt über diese Strophe ein brillantes Licht. Ist es die Ueberfülle der göttlichen Gnade, von der hier die Rede ist, die Bach dazu inspirierte oder die Gelegenheit, einem besonders begabten Geiger unter seinen Musikern einen Auftritt zu verschaffen? Nicht minder sind die Anforderungen an den Tenor, der die Geigenfiorituren in seinen Lobgesang übernimmt.

5. Rezitativ (Alt)

Er wolle meiner Sünden
in Gnaden mich entbinden,
durchstreichen meine Schuld!
Er wird auf mein Verbrechen
nicht stracks das Urteil sprechen
und haben noch Geduld.

5. Rezitativ
In einem kurzen, harmonisch dichten Rezitativ wird diese Choralstrophe gerafft, ein dramaturgisch geschickter Wechsel nach der langen, ausholenden Arie mit dem Violinsolo.

6. Arie (Alt)

Leg ich mich späte nieder,
erwache frühe wieder,
lieg oder ziehe fort,
in Schwachheit und in Banden,
und was mir stößt zuhanden,
so tröstet mich sein Wort.

6. Arie
Die Altarie spricht in Synkopen vom unruhigen, kurzen Schlaf während einer langen, gefahrvollen Reise, wie der Textdichter Fleming sie erleben sollte. Die Singstimme zeichnet anschaulich das Niederlegen, Aufwachen und Fortziehen.

7. Arie (Duett Sopran, Bass)

Hat er es denn beschlossen,
so will ich unverdrossen
an mein Verhängnis gehn!
Kein Unfall unter allen
wird mir zu harte fallen,
ich will ihn überstehn.

7. Arie
Und wieder ein Wechsel der Klangfarbe, ein Duett, das einzige neben den vier Soloarien in dieser Kantate. Sicherheit im Gottesvertrauen wird durch eine ruhig aufsteigende Tonleiterfolge ausgedrückt, während Verunsicherung durch die auf dem Weg lauernden Gefahren mit harmonischen Spannungen und einer «taumelnden», fallenden Melodie dargestellt wird.

8. Arie (Sopran)

Ihm hab ich mich ergeben
zu sterben und zu leben,
sobald er mir gebeut.
Es sei heut oder morgen,
dafür laß ich ihn sorgen;
er weiß die rechte Zeit.

8. Arie
Der Sopran, im Bund mit den beiden hervortretenden Oboen, drückt die Ergebenheit in Gottes Willen durch eine Arie im festen 2/4 Takt und in einem zuversichtlichen F-Dur aus.

9. Choral

So sein nun, Seele, deine
und traue dem alleine,
der dich erschaffen hat;
es gehe, wie es gehe,
dein Vater in der Höhe
weiss allen Sachen Rat.

9. Choral
«So sei nun, Seele, deine» heisst: «sei ganz du selbst». Die Kantate schliesst am Ende der irdischen Reise, wie sie begonnen hat, mit einem vollen Chor- und Orchestersatz. Der vierstimmige Choralsatz wird durch die Streicher zur Siebenstimmigkeit gesteigert, ein hymnischer Abschluss mit Blick auf den «Vater in der Höhe».

Reflexion

Kerstin Odendahl

«Gottvertrauen als Kraft zur Veränderung»

Der Aufstand in der arabischen Welt im Spiegel der Bachkantate «In allen meinen Taten».

Aufbruch
Vorgestern bin ich von einem zweiwöchigen Aufenthalt in Abu Dhabi zurückgekehrt. ich war dort als Gastprofessorin tätig. im Handgepäck hatte ich u. a. den Text der Bachkantate «in allen meinen Taten». ich fand die Lektüre passend: ein Gedicht, geschrieben von Paul Fleming vor Aufbruch zu einer mehrjährigen Reise nach Persien, begleitete mich auf eine Reise an den Persischen Golf.
Paul Fleming war ein bedeutender deutscher Barockdichter. Geboren 1609 in Hartenstein, Sachsen, studierte er in Leipzig Philosophie und Medizin und widmete sich daneben der Poesie. 1633 wurde er auf Vermittlung eines Freundes Teil einer Gesandtschaft des Herzogs Friedrich III. von Holstein-Gottorp nach Persien. Die Reise dauerte insgesamt sechs Jahre. Paul Flemings Gedicht, aus dem ein bekanntes Reiselied werden sollte, entstand offenbar vor seiner Abreise. Die meisten Strophen übernahm Bach später in seine Kantate.

Von der Reise zur Lebensreise
Die Kantate beginnt als Vertrauenslied vor dem Aufbruch ins Ungewisse:

«In allen meinen Taten
laß ich den Höchsten raten,
der alles kann und hat, (…)»

Sie zeugt von dem Gefühl des Beschütztseins:

«Es kann mir nichts geschehen,
als was er hat versehen,
und was mir selig ist, (…)».

Und sie widerspiegelt tiefstes Gottvertrauen:

«Ich traue seiner Gnaden,
die mich vor allem Schaden,
vor allem Übel schützt.»

Nach einigen Strophen aber wandelt sich das Reiselied in eine Auseinandersetzung mit der «Lebensreise» des Menschen. Es geht um Schicksalsschläge:

«Hat er es denn beschlossen,
so will ich unverdrossen
an mein Verhängnis gehn!»

Und es geht um den Tod:

«Ihm hab ich mich ergeben
zu sterben und zu leben,
so bald er mir gebeut.»

Am Ende allerdings steht wiederum – wie am Anfang der Reise bzw. Lebensreise – das Vertrauen auf Gott, den Allmächtigen:

«(…) es gehe wie es gehe,
dein Vater in der Höhe
weiß allen Sachen Rat.»

Zweifel
Kurz vor Antritt meiner Reise hatte die Bevölkerung zahlreicher arabischer Staaten begonnen, sich gegen das Unterdrückungsregime zu erheben. Die Menschen forderten den Rücktritt korrupter und diktatorischer Herrscher, sie forderten Lebenschancen, Gerechtigkeit, die Wahrung und Förderung ihrer Rechte, vor allem derjenigen auf Würde, Gleichheit, Meinungsfreiheit und politische Partizipation. Meine Vorlesung in Abu Dhabi befasste sich (ausgerechnet!) mit den Menschenrechten.
Ich erklärte meinen Studenten, dass Menschenrechte heute nicht mehr eine rein nationale Angelegenheit seien. Sie stellten eine internationale Aufgabe und Verpflichtung dar. Nach geltendem Völkerrecht binden die essenziellen Menschenrechte alle Staaten und deren Regierungen. Um uns herum jedoch antworteten zahlreiche arabische Machthaber auf die Forderungen ihrer Bevölkerung mit Unterdrückung, ja massiver Waffengewalt. Der libysche Diktator Ghadhafi massakrierte sein eigenes Volk.

«Ich traue seiner Gnaden,
die mich vor allem Schaden,
vor allem Übel schützt.»

Ich erklärte meinen Studenten, dass die völkerrechtliche Garantie der Menschenrechte heute gekoppelt sei an internationale Sanktions- und Durchsetzungsmechanismen. Diese könnten sowohl mit friedlichen, in Extremsituationen aber auch mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden. Letzteres sei Aufgabe des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Der Sicherheitsrat jedoch zögerte im Fall Libyen. Seine Mitglieder waren sich uneins, ob die Staatengemeinschaft eingreifen sollte oder nicht. Statt die Menschenrechte durchzusetzen, sah die mächtigste völkerrechtliche Institution einfach zu.

«Es kann mir nichts geschehen,
als was er hat versehen,
und was mir selig ist, (…)»

 Gegen Ende meines Aufenthaltes verschärfte sich der Aufstand in Bahrain. An meinem letzten Vorlesungstag rief der bahrainische König saudische Truppen sowie emiratische Polizeikräfte zu Hilfe und erklärte den Notstand. Ziel war es, die Forderungen der Demonstranten nach Demokratie und Gleichheit mit Gewalt zu ersticken, unter Inkaufnahme weiterer Toter unter der Zivilbevölkerung.

«Hat er es denn beschlossen,
so will ich unverdrossen,
an mein Verhängnis gehn!»

Ich war als Völkerrechtlerin verzweifelt. Wozu ist das Völkerrecht, wozu sind internationale Menschenrechtsgarantien gut, wenn sie doch mit Füssen getreten werden? Was nützen Verträge und Regeln, wenn die Durchsetzungsmechanismen schwach ausgestaltet sind? Und welche Berechtigung kann das einzig wirklich mächtige Organ, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, für sich in Anspruch nehmen, wenn er aufgrund politischer Überlegungen blockiert ist? Und schliesslich: Was mache ich eigentlich in Abu Dhabi? Meine Studenten bestanden zu einem nicht unerheblichen Teil aus Mitgliedern der mächtigen Familien aus der Golfregion. Verstanden sie eigentlich, was ich ihnen zu übermitteln versuchte? Dass sie als Herrscher die Pflicht haben, Menschen mit Würde zu behandeln, ihnen Gleichheit und Lebenschancen zu gewähren?

«(…) ich nehm es, wie ers gibet,
was ihm von mir beliebet,
das hab ich auch erkiest.»

Hatte Paul Fleming überhaupt eine Ahnung von den Grausamkeiten, von den Schicksalsschlägen des Lebens? Wie kann man angesichts der Realitäten, der Brutalität des Menschen alles als gottgegeben hinnehmen, auf Gott vertrauen, wenn wir doch sehen, dass wir in weiten Teilen nicht den Himmel, sondern die Hölle auf Erden haben? Waren die Menschen im 17. Jahrhundert so gottergeben, dass sie alles mit sich geschehen liessen?
Dann wäre die Bachkantate heute völlig überholt.

Hoffnung und Mut
Einer solchen Interpretation steht jedoch die Lebenswirklichkeit Paul Flemings entgegen. Er schrieb das Reiselied mitten in den Wirrnissen des Dreissigjährigen Krieges, der wohl grössten menschengemachten Katastrophe. Der Krieg und seine Auswirkungen prägten auch ihn. Und der Aufbruch mit einer Gesandtschaft nach Persien war damals eine Reise mit weitaus grösseren Gefahren, als wir sie uns heute vorstellen können. Vielleicht war Paul Fleming einfach nur ein mutiger Mensch?
Die Aufständischen in der arabischen Welt sind zumeist junge Männer und Frauen, die um ein würdiges Leben und um eine bessere Regierung kämpfen. Sie sind bereit, für ihre Rechte zu sterben. Häufig berufen sie sich dabei auf Allah, der ihnen die Kraft gibt, sich aufzubäumen. ich glaube nicht, dass die Demonstranten die «Universelle islamische Erklärung der Menschenrechte» von 1981 oder die «Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam» von 1990 kennen. Diese beiden religiösen – nicht völkerrechtlichen – Dokumente erklären, dass die Gewährung von Menschenrechten Teil des Islam sei. ich zitiere den ersten Absatz der «Universellen islamischen Erklärung der Menschenrechte»: «Der Islam gab der Menschheit vor vierzehn Jahrhunderten einen idealen Kodex der Menschenrechte. Diese Menschenrechte haben zum Ziel, der Menschheit Ehre und Würde zu gewähren sowie Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit ab­ zuschaffen.» im Islam hat Gott die Menschenrechte geschaffen. Die Demonstranten schöpfen demnach ihre Kraft, wahrscheinlich ohne es zu wissen, aus der richtigen Quelle. Also doch:

«(…) und was mir stößt zu Handen,
so tröstet mich sein Wort.»

Als die Gewaltanwendung durch Ghadhafi immer grössere Ausmasse annahm, sprach die Arabische Liga ihm jegliche Legitimität ab und forderte den Sicherheitsrat im Namen der arabischen Welt dazu auf, eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten, damit zumindest der Bombardierung der Bevölkerung ein Ende gesetzt werde. Gestern Nacht hat der Sicherheitsrat diese Flugverbotszone beschlossen.
Dabei ging er sogar über die ursprüngliche Forderung hinaus und ermächtigte die Staaten, Libyens Bevölkerung notfalls mit militärischen Mitteln aus der Luft zu schützen. Erste Staaten, darunter auch der arabische Staat Qatar, haben ihre Bereitschaft erklärt, sich an den Massnahmen zu beteiligen. Heute Nachmittag hat Libyen einen sofortigen Waffenstillstand angekündigt. Obwohl die Lage weiterhin unklar ist und den Winkelzügen des libyschen Despoten nicht getraut werden darf: Die völkerrechtlichen Schutzmechanismen haben – endlich – angefangen zu funktionieren. Also doch:

«Nichts ist es spat und frühe
um alle meine Mühe,
mein Sorgen ist umsonst.»

Unter meinen Studenten fanden sich auch junge Menschen aus Bahrain. Am letzten Vorlesungstag, unmittelbar nachdem in Bahrain der Notstand ausgerufen worden war und massiv gegen die Demonstranten vorgegangen wurde, behandelten wir – ausgerechnet – die «Arabische Charta der Menschenrechte», einen völkerrechtlichen Vertrag aus dem Jahre 2004. Gemäss Artikel 24 und 30 hat jeder Staatsbürger u. a. das Recht, einer politischen Tätigkeit nachzugehen, das Recht zu wählen oder gewählt zu werden, das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern sowie die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit. Spontan rief ein Student aus Bahrain aus: «Das haben wir aber nicht unterschrieben!» ich antwortete ihm: «Doch. Schauen Sie bitte auf die Liste der Vertragsstaaten. Bahrain hat die Charta 2005 unterzeichnet und 2006 ratifiziert.» «Das war nicht ernst gemeint», war die lachende, aber etwas gequält-unsichere Antwort. «im Völkerrecht ist alles ernst gemeint», entgegnete ich. «Der Staat, der einen Vertrag unterzeichnet und ratifiziert, ist an ihn gebunden. Eine Unterschrift gilt. Bahrain hat sich zur Wahrung dieser Menschenrechte verpflichtet.» Die folgende Stille dauerte wohl nur wenige Sekunden; dem Gefühl nach zog sie sich jedoch über Minuten hin. Am Ende der Vorlesung bedankten sich die Studenten für die zehntägige Vorlesung, zum Teil überschwänglich, bei mir – auch mein bahrainischer Student. Vielleicht also war meine Mühe doch nicht umsonst?

«In allen meinen Taten
laß ich den Höchsten raten,
der alles kann und hat (…)» 

Paul Fleming war kein naiver, schicksalsergebener, sondern ein mutiger Mensch, der seine Kraft zum Aufbruch aus dem Glauben und dem Vertrauen auf Gott nahm. Er verstand die menschliche Existenz als Reise, die es zu leben gilt. Die Erfahrungen während meiner Reise in die arabische Welt haben mir gezeigt, dass wir auch heute noch so denken. Wir verzweifeln zwar zuweilen, wir verstehen nicht, längst ist nicht alles gut. Trotzdem kann uns das Vertrauen auf Gott die Kraft, die Freiheit zum Leben geben – und zwar in allen Religionen, die an Gott glauben.

Ankunft
Auf dem Flug zurück nach Europa schaltete ich das Bordmusikprogramm an. ich gebe zu, dass ich in meiner Freizeit nicht nur Bachkantaten, sondern auch häufig und gern Popmusik höre. Beim «Zappen» (wie man heute so schön sagt) stiess ich auf das mir bis dahin unbekannte Lied «Universum» der deutschen Popgruppe «ich & ich» aus ihrem Album «Gute Reise». ich war überwältigt. Es war, als hörte ich die Bachkantate, nur mit anderer Melodie und mit anderem Text:

«Du kannst in die Berge fliegen
durch die Mongolei
in tiefste Tiefen tauchen
fühl Dich frei!
Das Universum dehnt sich aus.

Du kannst die Gipfel erklimmen
zu allen Inseln schwimmen.
In Deinem Herzen bin ich sowieso dabei,
denn ich bin immer Dein Zuhaus’.

Du kannst zu den Sternen fliegen,
am Orion vorbei,
im Mariannengraben tauchen,
fühl Dich frei!
Das Universum dehnt sich aus.

Du kannst den Mount Everest erklimmen
bis nach Island schwimmen.
In Deinem Herzen bin ich sowieso dabei,
denn ich bin immer Dein Zuhaus’.
– Ich bin immer Dein Zuhaus’.»

Gott ist für uns nicht immer verständlich. Aber er gibt uns die Kraft – die Kraft zum Leben und die Kraft zur Veränderung. Wir sind frei.

 

Literatur
• Jörg-Ulrich Fechner, Paul Fleming, in: Harald Steinhagen/Benno von Wiese (Hg.), Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, Erich Schmidt Verlag, Berlin 1984, S. 365–384
• Rudolf Alexander Schröder, Paul Fleming. Ein Blick auf sein Leben und seine Werke, in: Vorstand der Bremer Wissenschaftlichen Gesellschaft (Hg.), Abhandlungen und Vorträge, Jahrgang 5 (1931), Gustav Winters Buchhandlung Franz Quelle Nachf. Bremen, S. 154–200
• Hans-Joachim Schulze, Die Bach-Kantaten. Einführung zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, S. 565–568
• Presseberichte aus dem Zeitraum 1. bis 18. März 2011

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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