Ehre sei dir, Gott, gesungen
BWV 248/5 // Weihnachtsoratorium
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe d’amore I+II, Streicher und Basso continuo
Die zum Sonntag nach Neujahr bestimmte V. Kantate des Weihnachtsoratoriums gehört zu den weniger bekannten Teilen des berühmten Zyklus von 1734/35. Im Zentrum des Geschehens stehen diesmal die Weisen aus dem Morgenlande, deren ausdauernde Suche nach dem neugeborenen Kind als nachahmenswertes Beispiel für das sehnende Verlangen nach dem göttlichen Licht gezeichnet wird, das im Vergleich zum finsteren Streben des Königs Herodes umso heller zu leuchten vermag. Entsprechend schlägt die mit Oboen d‘amore und Streichern kammermusikalisch besetzte Kantate verinnerlichte Töne an, die vom schwungvollen Perpetuum mobile des Eingangschores «Ehre sei dir, Gott, gesungen» einladend überwölbt werden.
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Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Sopran
Marie Luise Werneburg
Alt/Altus
Margot Oitzinger
Tenor
Daniel Johannsen
Bass
Matthias Helm
Chor
Sopran
Jessica Jans, Simone Schwark, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel, Anna Walker
Alt
Antonia Frey Sutter, Lara Morger, Lea Pfister-Scherer, Alexandra Rawohl, Simon Savoy
Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Tiago Oliveira, Sören Richter
Bass
Fabrice Hayoz, Grégoire May, Simón Millán, Philippe Rayot, Jonathan Sells
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Peter Barczi, Christine Baumann, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó
Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Sarah Mühlethaler
Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov
Violone
Markus Bernhard
Oboe d‘amore
Andreas Helm, Philipp Wagner
Fagott
Susann Landert
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referent
Rudolf Wehrli
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
18.01.2019
Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erstmalige Aufführung
1. Januar 1735 in Leipzig
Textdichter
Christian Friedrich Henrici (Picander)
Georg Weissel (46.); Johann Franck (53.)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
43. Chor
Ehre sei dir, Gott, gesungen,
dir sei Lob und Dank bereit’.
Dich erhebet alle Welt,
weil dir unser Wohl gefällt,
weil anheut
unser aller Wunsch gelungen,
weil uns dein Segen so herrlich erfreut.
43. Chor
Das «Ehre sei dir» ist eine persönliche Antwort auf das «Gloria» der Engel (in Kantate II) – und damit steht die individuelle Frage nach der Bedeutung der Geburt des Kindes «anheut» im Zentrum dieser V. Kantate. Eingeleitet von einem schwungvollen Orchestervorspiel, strahlt diese wahrscheinlich einzige Originalkomposition unter den Eingangssätzen des Oratoriums emsige Dankbarkeit und ansteckende Freude aus.
44. Rezitativ (Evangelist: Tenor)
»Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande zur Zeit des Königes Herodis, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenlande gen Jerusalem und sprachen:«
44. Rezitativ
Während es bei Lukas die Hirten draussen waren, die zuerst das Licht der Klarheit sahen, sind es bei Matthäus die Weisen vom Morgenlande, die dem geheimnisvollen Stern folgen und aufbrechen (Matthäus 2, 1).
45. Chor und Rezitativ — Alt
»Wo ist der neugeborne König der Jüden?«
Sucht ihn in meiner Brust,
hier wohnt er, mir und ihm zur Lust!
»Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenlande und
sind kommen, ihn anzubeten.«
Wohl euch, die ihr dies Licht gesehen,
es ist zu eurem Heil geschehen!
Mein Heiland, du, du bist das Licht,
das auch den Heiden scheinen sollen,
und sie, sie kennen dich noch nicht,
als sie dich schon verehren wollen.
Wie hell, wie klar muß nicht dein Schein,
geliebter Jesu, sein!
45. Chor und Rezitativ
Die Leitfrage «Wo ist der neugeborne König der Juden?» (Matthäus 2, 2a) ist nicht nur eine geografische und historische, sondern auch eine, die nun ins Persönliche gewendet wird: «Sucht ihn in meiner Brust.» Und deshalb wird die Präzisierung «Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenlande und sind kommen, ihn anzubeten» (Matthäus 2,2b) mit einer Seligpreisung beantwortet: «Wohl euch, die ihr dies Licht gesehen, es ist zu eurem Heil geschehen!» Die Lichtmetaphorik bildet durch diese ganze Kantate hindurch das spirituelle Leitmotiv. Bach kombiniert hier eine an die Turbachöre seiner Passionen erinnernde gestische Schreibweise für Vokalensemble mit zurückgenommenen Accompagnato-Reflexionen des Soloalts. Der Verweis auf die den «neugeborenen König» anbetenden fremden Heiden deutet einerseits die Ausweitung der frohen Botschaft über die jüdische Urgemeinde hinaus an und vermag andererseits allzu lauen Christen seiner Zeit beschämend den Spiegel vorzuhalten.
46. Choral
Dein Glanz all Finsternis verzehrt,
die trübe Nacht in Licht verkehrt.
Leit uns auf deinen Wegen,
daß dein Gesicht
und herrlichs Licht
wir ewig schauen mögen!
46. Choral
Die Bestätigung des Motivs erfolgt mit der 6. Strophe «Dein Glanz all Finsternis verzehrt, die trübe Nacht in Licht verkehrt» des alten Weihnachtsliedes «Nun, liebe Seel, nun ist es Zeit» von Georg Weissel (1642) – ein Glanz, der sich auf dem Gesicht Christi zeigt und der in Bachs unnachahmlich kraftvollem Satz vor dem Hintergrund einer sowohl harmonisch wie rhythmisch vertrackten «trüben Nacht» besonders hell zu strahlen vermag
47. Arie — Bass
Erleucht auch meine finstre Sinnen,
erleuchte mein Herze
durch der Strahlen klaren Schein!
Dein Wort soll mir die hellste Kerze
in allen meinen Werken sein;
dies lässet die Seele nichts Böses beginnen.
47. Arie
Die Bassarie hat die Form eines Gebetes um Erhellung und Erleuchtung des Herzens durch das göttliche Wort, eine Bitte, die sich auch auf Wirkungen im eigenen Leben bezieht. Bachs verinnerlichtem Triosatz hört man dank seiner sorgfältigen Umarbeitung die Herkunft aus der streitbaren weltlichen Huldigungsarie «Durch die von Eifer entflammeten Waffen» BWV 215/7 kaum noch an. Die tiefe Basslage und die sonore Klangfarbe der Oboe d‘amore machen einen inneren Läuterungsprozess plausibel, von dem sich das brutale Handeln des Herodes umso stärker absetzt.
48. Rezitativ (Evangelist: Tenor)
»Da das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm das ganze Jerusalem.«
48. Rezitativ
Die Frage der Weisen nach dem neugebornen Königskind löst Angst und Abwehr beim Machtmenschen Herodes aus – er sieht seine Macht gefährdet und mit ihm die politische Elite (Matthäus 2,3).
49. Rezitativ — Alt
Warum wollt ihr erschrecken?
Kann meines Jesu Gegenwart
euch solche Furcht erwecken?
O! solltet ihr euch nicht
vielmehr darüber freuen,
weil er dadurch verspricht,
der Menschen Wohlfahrt zu verneuen.
49. Rezitativ
Der Kommentar des Rezitativs wendet sich an die Gläubigen: bei ihnen sollte nicht Angst (wie bei Herodes), sondern Freude über das gute Neue die Reaktion sein. Bach fängt diesen Haltungswechsel mit dem Übergang von Streichertremoli zu wiegenden Begleitmotiven kongenial ein.
50. Rezitativ (Evangelist: Tenor)
»Und ließ versammlen alle Hohepriester und Schriftgelehrten unter dem Volk und erforschete von
ihnen, wo Christus sollte geboren werden. Und sie sagten ihm: Zu Bethlehem im jüdischen Lande; denn also stehet geschrieben durch den Propheten: Und du Bethlehem im jüdischen Lande, bist mitnichten die kleinest unter den Fürsten Juda; denn aus dir soll mir kommen der Herzog, der über mein Volk Israel ein Herr sei.«
50. Rezitativ
Die Erkundigung der Weisen führt zu fiebrigen Suchbewegungen der geistlichen und geistigen Elite: Sie stossen auf Hinweise in der Heiligen Schrift, dass der Messias in Bethlehem, der Davidsstadt, geboren werde – eine Prophezeiung, die Bach im schönsten Belcanto-Ton vortragen lässt.
51. Arie Terzett — Sopran, Alt, Tenor
Ach, wenn wird die Zeit erscheinen?
Ach, wenn kömmt der Trost der Seinen?
Schweigt, er ist schon würklich hier!
Jesu, ach so komm zu mir!
51. Arie Terzett
Das Terzett beantwortet die Frage nach dem Kommen und der Präsenz des Messias: Er ist schon hier, die neue Zeit ist angebrochen – die Bitte ist deshalb eine auf das persönliche Leben des Glaubenden bezogene: «Jesu, ach, so komm zu mir!» Begleitet von einer eindringlichen Violinstimme, nutzt Bach die bei ihm seltene Form eines Vokalterzetts, um den inneren Kampf zwischen erschöpftem Warten (Sopran und Tenor) und wissendem Vertrauen (Alt) hörbar zu machen, wobei die kämpferischen Interpolationen des Alts natürlich das letzte Wort behalten.
52. Rezitativ — Alt
Mein Liebster herrschet schon.
Ein Herz, das seine Herrschaft liebet
und sich ihm ganz zu eigen gibet,
ist meines Jesu Thron.
52. Rezitativ
Das Altrezitativ bekräftigt diese Botschaft: Jesus ist präsent im Herzen derer, die seine Herrschaft annehmen und lieben, ihm folgen – das Herz selbst wird so zum Thron Jesu.
53. Choral
Zwar ist solche Herzensstube
wohl kein schöner Fürstensaal,
sondern eine finstre Grube;
doch, sobald dein Gnadenstrahl
in denselben nur wird blinken,
wird es voller Sonnen dünken.
53. Choral
Der abschliessende Choral fasst mit der sechsten Strophe des Weihnachtsliedes von Johann Franck «Ihr Gestirn, ihr hohen Lüfte» die durch die ganze Kantate hindurch leitmotivische Lichtmetaphorik und Verinnerlichung des Jesusgeschehens noch einmal zusammen: «Zwar ist solch Herzensstube wohl kein schöner Fürstensaal, sondern eine finstre Grube» – doch wo die Gnade Jesu in diese Stube leuchtet, wird sie von seinem Sonnenlicht erfüllt sein. Bach kehrt dafür zum warm leuchtenden A-Dur des Eingangschores zurück.
Rudolf Wehrli
Weihnachten liegt schon beinahe einen Monat hinter uns, ebenso die Wintersonnenwende, die als ursprüngliches Fest des «Sol invictus», des unbezwungenen Sonnengottes, das Datum im 4. Jahrhundert für das junge Christentum vorgab. Seitdem werden die Tage länger, die Dunkelheit zieht sich täglich etwas weiter zurück, und Licht erfüllt an ihrer Stelle in unseren Breitengraden die Tage.
Licht und Dunkel allerdings sind in unserer Kantate von anderer Qualität: Die Lichtmetaphorik ist gleichsam das Leitmotiv: In einer uralten, ursprünglich wohl vorderorientalischen, vielleicht auch altägyptischen religionsgeschichtlichen Tradition verzehrt der Glanz des Lichtes alle Finsternis der Nacht und begleitet die Überwindung von Täuschung und Irrtum durch die Wahrheit und das Heil. Diese Tradition findet sich Jahrhunderte später auch im griechisch-römischen Kulturkreis, beim frühgriechischen Epiker Hesiod genauso wie beim Vorsokratiker Parmenides zu Beginn des 5. Jahrhunderts vor Chr., der vom Hause der Nacht aus zu einer Fahrt über die ganze Erde hin aufbricht, um die reine Wahrheit im strahlenden Licht der Sonne zu finden.
Erstaunlicher noch ist die zwei Generationen vor dem Matthäusevangelium um 40 nach Chr. auf dem Höhepunkt eines römischen Bürgerkrieges von Vergil geschriebene 4. Ekloge zur «Geburt des Kindes», in der er den alten orientalischen Mythos «Die Prophetie der Sibylle» – wie er sagt – aufnahm: «Jener Knabe», heisst es da, «wird das Leben der Götter empfangen, im Himmel mit den Seligen und Heroen verkehren und mit der Kraft des Vaters ein Friedensherrscher über die Welt werden.» Die Parallelen zu den Texten der Evangelisten Matthäus und Lukas sind auch im weiteren Verlauf des Textes verblüffend, bis hin zum überwältigenden Glanz eines himmlischen Lichtes, dem Bezug zum Sonnengott und dem Gott der Zeitenwende bzw. «der Erfüllung der Zeit», eine Formulierung, die Paulus im Galaterbrief genauso verwendet wie Markus zu Beginn seines Evangeliums.
Die Geburt eines göttlichen Knaben, überirdisches Licht, die Verheissung einer neuen Zeit, der Anbruch des ewigen Friedens, es sind die Bilder intensivsten menschlichen Hoffens in dunklen Zeiten, Zeiten von Krieg, schrecklichen Ereignissen und schwer zu ertragenden Leiden. Die Metaphorik des Lichtes erstreckt sich damit auf eine zweite Ebene: Das Licht soll die finsteren Sinne des Menschen erleuchten, damit – so unser Text – die Seele nichts Böses beginnt. Und gleich im anschliessenden Rezitativ erscheint eine böse Ahnung: Herodes erschrak nämlich und mit ihm das ganze Jerusalem – mindestens das der Etablierten, der Hohepriester und Schriftgelehrten.
Damit entwickelt die religiöse Metaphorik von Licht und Finsternis, von Wahrheit und Täuschung eine eigentümliche Dialektik: Friede, Verheissung, Licht, Geburt des göttlichen Kindes an der Zeitenwende und unmittelbar daneben das Dunkle, das Verhängnis, in das Herodes’ Schrecken im Erzählstrang des Matthäusevangeliums mündet: der Schrecken des bethlehemitischen Kindermordes.
Warum das? So fragen wir uns. Nun, Herodes erschrak, dass da ein neugeborener König der Juden sei, den er nur als Rivalen verstehen konnte, der seine Macht in Frage stellte. Die erwähnte Dialektik öffnet nun freilich einen Abgrund: Der neugeborene König, Träger der Verheissung, des Heils, der den Frieden bringen soll, löst Angst und damit Aggression aus, wird zum Anstoss des Unfriedens. Eine religiöse Hoffnung hat, weil sie bestehende Verhältnisse, politisch Etabliertes in Frage stellt, nicht beabsichtigte Konsequenzen: Das grossartige Ideal mutiert in der Konfrontation mit der Realität zum unfassbaren Schrecken!
In Goethes «Faust» stellt sich Mephisto zu Beginn vor (Zitat) «als ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft». In erschreckender Umkehrung dieses Verses erschiene nun in unserem Text die Kraft, die stets das Gute will und dabei das Böse, den Kindermord zu Bethlehem, provoziert. Könnte es denn sein, dass religiöse Hoffnung, hohe Ideale des Glaubens in der Realität auch das Böse bewirken, dass die innere Kraft friedensstiftender Verheissung auch in Gewaltausbrüche umschlagen kann? Könnte es denn sein, dass die Kraft, die stets das Gute, den Frieden schaffen will, zum Anlass des Unfriedens, von Leid und Tod wird?
Das Paradox ist schwer verständlich, schwerer noch zu akzeptieren, und darum wohl ordnet Matthäus die Ereignisse in die Erfüllung der Geschichte des Gottesvolkes ein, und zwar mit den sog. Reflexionszitaten wie zum Beispiel, «damit erfüllt werde, was geschrieben steht».
Dennoch: Ein Skandalon, ein gründliches und irritierendes Ärgernis bleibt der Widerspruch von Friede und Unfriede, die Dialektik von Verheissung und Gewalt allemal. Und es gehört zu den traurigen Paradoxen der abendländischen Geschichte, dass im Namen der Religion, die den Frieden verheisst, wieder und wieder Menschen unterdrückt, gedemütigt, ermordet oder ganze Landstriche mit Kriegen überzogen wurden. Der Beispiele sind viele: die Christianisierung der Sachsen unter Karl dem Grossen, die Kreuzzüge, die furchtbaren Auseinandersetzungen um den rechten Glauben im Dreissigjährigen Krieg oder die Hinrichtungen Einzelner, die bestimmte Glaubenssätze der etablierten Kirchen bestritten.
Gewiss, in solchen Konflikten ging und geht es in aller Regel keineswegs allein um religiöse Überzeugungen, sondern fast immer auch um wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Verhältnisse oder Unterdrückung; allerdings wird die innere Energie eines religiösen Glaubens nur zu oft instrumentalisiert, und insofern verstärken sich dann häufig politische und religiöse Orientierungssysteme.
In der Tat: Die innere Kraft friedensstiftender Verheissung, der glühende Glaube an edle Ideale kann auch in Gewalt enden. Das Bewusstsein davon kann zu einem späten Reflex der Aufklärung werden: Da, wo es bewusst wird, dass beides, Friede und Unfriede, in der inneren Kraft der Religion angelegt ist, wo es bewusst wird, dass überzeugter religiöser Glaube auch in Gewalt umschlagen kann, hat vielleicht die Verkehrung eines Glaubens, der von der Verheissung auf Frieden lebt, in gewalttätige Intoleranz weniger Erfolg.
Indessen: Nicht allein die abgründige Dialektik schafft Distanz und verfremdet den Text in seinem traditionellen Kontext: Es sind auch die Mühen, die wir heute mit dem im ganzen Text präsenten personalen Gottesbild haben. Und ebenso fern ist wohl den meisten heute die im Text allenthalben gegenwärtige Frage Luthers: «Wie erreiche ich einen mir gnädigen Gott?» Der Mensch, der im Finstern wandelt, der Sünde ausgeliefert ist und daher der göttlichen Gnade bedarf, die als Heil nur von oben kommen kann, das alles ist nicht das Lebensgefühl in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung – so wenig, wie das heilsgeschichtliche Drama von Tod und Auferstehung noch eine Mehrheit erreicht.
Bloss wüssten wir auch nicht zu sagen, was denn an die Stelle dieses geschlossenen christlichen Weltbildes getreten ist, welche Werte und festen Überzeugungen heute Menschen leiten. Denn die Auflösung traditioneller christlicher Sinnzusammenhänge in der Folge von Aufklärung und Säkularisation hat den Menschen ohne Orientierungen als «Orientierungswaise», wie ihn Hermann Lübbe genannt hat, zurückgelassen. Und woher nun Orientierungen kommen könnten, weiss niemand zu sagen.
Nirgends wird das klarer als in den Wissenschaften: Da erreichen wir zwar einstweilen in vielen Disziplinen immer mehr – in der Medizin zum Beispiel mit der Verlängerung des Lebens, in der Betriebswirtschaft mit permanenten Produktivitätssteigerungen –, wissen dabei fortwährend mehr über das Wie und gleichzeitig immer gleich wenig über das Wozu. Mir will scheinen, es wäre dringend notwendig, neben der Perfektionierung von Wissen und Handeln in den einzelnen Wissenschaften vermehrt den Sinn des ganzen Treibens zu bedenken.
Damit kommen wir zurück zum Eingangschoral unserer Kantate: «Ehre sei dir, Gott, gesungen», womit wir mitten im Zentrum von Bachs Schaffen und seines überwältigenden Musizierens sind: «Soli Deo Gloria» (allein Gott die Ehre), so überschrieb er zahlreiche seiner Kompositionen, weil er sein Schaffen in einem grösseren, von Gott geschaffenen Sinnzusammenhang sah, weil ihm der Sinn seines Tuns evident war – und als Ausfluss göttlichen Sinnzusammenhangs verstand er wohl auch seine Harmonien.
Wer allerdings als Kind einer säkularisierten Moderne – als Orientierungswaise eben – den Glauben an solche Sinnzusammenhänge verloren hat, bleibt mit Fragen zurück. Darunter auch die Frage, ob es eine postchristliche Interpretation der Texte aus Bibel und Gesangbuch gäbe. Denn ihm erscheint, was immer geschieht, nicht als Teil oder Ergebnis eines göttlichen Plans, nicht als Sinnerfüllung eines höheren Zwecks, sondern als blosse Kontingenz, als unzusammenhängendes, zufälliges Geschehen eben. Dass hinter allem ein göttlicher Plan stünde, ist ihm ebenso fremd wie der Gedanke, dieser könnte gar verstanden werden – höchstens mag er auf ein ihm gnädiges Geschick hoffen. Vielleicht aber vermag damit unser Eingangschoral «Ehre sei dir, Gott, gesungen» zur demütigen Erkenntnis zu führen, dass solche Kontingenz – in Gottes Namen eben – nicht zur Disposition von uns Menschen steht. Und damit wird eine solche postchristliche Interpretation auch – um mit Herder zu sprechen – ein Beitrag zur Beförderung der Humanität und bringt Licht ins Dunkel der Welt.