Gott fähret auf mit Jauchzen
BWV 043 // zu Himmelfahrt
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Trompete I–III, Timpani, Streicher und Basso continuo
Bachs 1726 komponierte Festkantate preist die Himmelfahrt Christi und ist daher vielfach von Fanfarenmotiven durchdrungen. Ihr mit virtuosen Trompetenklängen ausstaffierter Eingangschor lässt auf einen schwebend offenen Beginn kraftvolle Dreiklangsbrechungen und weitausgreifende Vokallinien folgen, die im Lobpreis des Himmelskönigs Altes und Neues Testament verknüpfen. Text und Musik der Kantate sprechen Christus als siegreichen Helden an, der die Kelter des Leidens getreten und allen Gläubigen den Weg zum Himmel gebahnt hat. Bachs meisterlich proportionierte Komposition drückt dabei auch die Hoffnung derjenigen aus, die in den Worten des Librettos noch wartend am Wege stehen und dem entrückten Lebensfürsten sehnlich nachschauen.
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Werkeinführung
Reflexion
Bonusmaterial
Chor
Sopran
Larissa Bretscher, Linda Loosli, Simone Schwark, Susanne Seitter, Anna Walker, Mirjam Wernli
Alt
Antonia Frey, Stefan Kahle, Lea Pfister-Scherer, Damaris Rickhaus, Lisa Weiss
Tenor
Manuel Gerber, Raphael Höhn, Nicolas Savoy, Walter Siegel
Bass
Fabrice Hayoz, Simón Millán, Valentin Parli, Daniel Pérez, Philippe Rayot
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Peter Barczi, Christine Baumann, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó
Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Sarah Mühlethaler
Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin
Violone
Markus Bernhard
Trompete
Lukasz Gothszalk, Nicolas Isabelle, Alexander Samawicz
Timpani
Laurent de Ceuninck
Oboe
Philipp Wagner, Ingo Müller
Fagott
Susann Landert
Cembalo
Dirk Börner
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referentin
Christoph Drescher
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
24.05.2019
Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erstmalige Aufführung
30. Mai 1726, Leipzig
Textdichter
Psalm 47, 6–7 (Satz 1); Mark. 16, 19 (Satz 4); Johann Rist (Satz 11); Anonymus (Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen; Sätze 2, 3, 5–10)
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die zu Himmelfahrt 1726 erstaufgeführte Kantate BWV 43 ist Teil eines thüringischsächsischen Beziehungsgeflechtes, das Bachs Kantatenproduktion dieses Jahres eng mit Textvorlagen aus Meiningen sowie Kompositionen seines dortigen Vetters Johann Ludwig Bach verknüpfte. Griffen doch beide Tonsetzer auf seit 1704 mehrfach gedruckte Dichtungen zurück, die wohl aus der Feder des Meininger Herzogs Ernst Ludwig stammen und auch den Sätzen 5–10 unserer Kantate zugrunde liegen. Zudem wechselte Bach im ersten Halbjahr 1726 beständig zwischen eigenen Kantaten und Kirchenstücken seines Vetters ab. Charakteristisch für diesen Kantatentypus ist die Verwendung eines je aus dem Alten und Neuen Testament entnommenen und damit doppelten Bibeldictums.
Der zweiteilige Eingangschor beginnt mit einem Adagio, das im Gestus an die C-Dur-Ouvertüre BWV 1066 erinnert und dabei womöglich die stillgestellte Ruhe vor dem Anbruch der Himmelfahrt einfängt. Mit dem Wechsel zum geschwinden Alla-breve-Takt beginnt die Trompete I über tonraumfüllenden Streichergesten eine Fanfare von beeindruckender Schwierigkeit, in die sich Instrumentaltutti und Chor mit blockhaften Rufen und lautmalerischen Koloraturen einschalten («Jauchzen»). Dieses kompakte Konzertieren geht in wuchtige Chorwechsel über («Lobsinget Gott!»), ehe das von einer freien Polyphonie bestimmte Orchesterfest zu einem rauschenden Schluss gelangt.
Im Tenorrezitativ tritt eine vom Textbuch als «aufmerksame Seele» bezeichnete Figur in Erscheinung, die sich angesichts des Christi Auffahrt begleitenden himmlischen Heeres in staunenden Fragen ergeht. Die anschliessende Arie im hurtigen 3⁄ 8-Takt kommt als leichtfüssiges Sechzehntelunisono zweier Violinen über federnden Continuoschwüngen daher, in das sich der Solist mit einer auf die Kerntöne der Streicherkaskaden verdichteten Melodik einbringt. In der effizient gehaltenen Satzanlage bildet sich dabei weniger die Menge der den Siegeskönig in Anlehnung an Psalm 68 begleitenden «Tausend mal Tausend» ab als die grundstürzende Rasanz des Ereignisses. Das folgende Evangelienwort aus Markus 16, 19 läuft in einem knappen Sopranrezitativ eher unprätentiös durch, ehe die mit Streichern und Oboen füllig besetzte und dank ihrer e-Moll-Tonalität überraschend elegische Arie den von Abschiedstrauer geprägten Gedanken der Zurückbleibenden Ausdruck verleiht – eine angesichts der durchdringenden Knabenstimmen seinerzeitiger Thomanerkonzertisten gewiss eindrückliche Partie, die der in der Kantatenmitte angesiedelten Predigt die Bahn bereitete.
Der zweite Kantatenteil beginnt mit einer Betrachtung der heroischen Überwindung Jesu, der hier als der «Helden Held» angeredet wird, was der kraftvollen Basslage anvertraut ist und von Bach in einer vibrierenden Rezitativ-Szene mit beweglichen Streichern eingefangen wird. Darauf darf in der Bassarie die Trompete antworten, der Bach hier eine exponiert offenliegende und dabei ebenso heldische wie kantable Partie zugemutet hat, die nicht zufällig in einer späteren Aufführung der Violine übertragen wurde – ein reizvolles Neuarrangement, das in unserer Aufnahme gemeinsam mit dem vorgehenden Rezitativ als Bonustrack vorgestellt wird. Dieses arbeitsame Arientrio ist vom Gedanken des mühseligen «Keltertretens» geprägt – das darin zusammengefasste Geschehen aus Kreuzestod, Auferstehung und Himmelfahrt fordert hörbar übermenschliche Kräfte … Das Dacapo der Arie beschränkt sich hingegen auf das Eingangsritornell; gut denkbar, dass Felix Mendelssohn Bartholdy, der die Kantate 43 auf dem Kölner Musikfest 1838 zum Rückgrat eines aus mehreren Bach-Werken zusammengesetzten Himmelfahrts-Pasticcios machte, auch durch diese Praxis zu ähnlichen Kürzungen in seiner Spielfassung der Matthäuspassion ermuntert wurde.
Das dem Alt übertragene letzte Rezitativ-Arie-Satzpaar offenbart verinnerlichte Züge. Ersteres exponiert die verheissungsvolle Aussage, dass – da Christus als Erstling der auferstandenen Frommen die Krone des Lebens trage – auch der noch an den Erdenlauf gebundene Gläubige mit Zuversicht zu ihm aufblicken könne. Diese Aura beseligter Vorahnung wird in der Arie durch ein Oboenpaar verkörpert, dessen sanfte Melodiebögen sowohl die kantige Bassführung als auch den teils von grimmer Feindesvertilgung und intensiv ausgekosteter Erdennot redenden Text in ein tröstliches Gesamtbild einbinden. Nachdem das abschliessende Sopranrezitativ die verheissene Wohnung bei Gott evoziert und so allen Abschied in befreite Dankbarkeit verwandelt hat, führt der zweistrophige Schlusschoral die Festtagsbotschaft in archaischer Schlichtheit zusammen. Die aus den Quellen nicht sicher bestimmbare Mitwirkung der Blechbläser wird in unserer Aufführung als Steigerungsmoment einer gemeindlich orientierten Gottesdienstdramaturgie zelebriert.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Gott fähret auf mit Jauchzen
und der Herr mit heller Posaunen.
Lobsinget, lobsinget Gott,
lobsinget, lobsinget unserm Könige.
1. Chor
Der Chor setzt ein mit den Versen 6–7 aus Psalm 47, dessen ursprünglich martialische Bedeutung in der christlichen Auslegung auf die Himmelfahrt Christi bezogen wurde, so auch in der von Bach benutzten Olearius-Bibel: «Triumphus, Die Himmelfarth» ist der Psalm dort überschrieben, und der Kommentar dazu: «Die Himmelfarth erfreut das Hertz.» Der mit virtuosen Trompetenklängen ausstaffierte Satz lässt auf einen schwebenden Beginn eine konzertante Fuge folgen, deren Dreiklangsbrechungen und ausgreifende Vokallinien dem Lobpreis des Himmelskönigs beträchtliche Wucht verleihen.
2. Rezitativ — Tenor
Es will der Höchste sich ein Siegsgepräng bereiten,
da die Gefängnisse er selbst gefangen führt.
Wer jauchzt ihm zu?
Wer ists, der die Posaunen rührt?
Wer gehet ihm zur Seiten?
Ist es nicht Gottes Heer,
das seines Namens Ehr,
Heil, Preis, Reich, Kraft und Macht
mit lauter Stimme singet
und ihm nun ewiglich ein Halleluja bringet.
2. Rezitativ – Tenor
Das Rezitativ antwortet auf den triumphalen Jubel mit einem Wort aus Epheser 4, 8: Christus sei aufgefahren – er habe «das Gefängnis gefangen geführt » (was in einer zeitgenössischen Lutherbibel
so kommentiert wird: «das ist, die sünde, tod und gewissen, dass sie uns nicht halten mögen»). Es beantwortet die Frage, wer ihm zujuble, gleich selbst: nämlich das himmlische Heer der Engel.
3. Arie — Tenor
Ja tausend mal tausend begleiten den Wagen,
dem König der Kön’ge lobsingend zu sagen,
daß Erde und Himmel sich unter ihm schmiegt
und was er bezwungen, nun gänzlich erliegt.
3. Arie – Tenor
Auch die Tenorarie bringt ein Psalmzitat (Psalm 68, 18), in dem von den vieltausend himmlischen Streitwagen die Rede ist, die den göttlichen Triumph begleiten. Unisono geführte Violinen und
Tenorstimme greifen mit ihren Akkordbrechungen und Lauffiguren den Fanfarengestus des Eingangschors
auf.
4. Rezitativ — Sopran
Und der Herr, nachdem er mit ihnen
geredet hatte, ward er aufgehaben gen
Himmel, und sitzet zur rechten Hand
Gottes.
4. Rezitativ – Sopran
Im Sopranrezitativ hören wir als unkommentiertes Bibelzitat den kurzen Himmelfahrtsbericht aus Markus 16, 19.
5. Arie — Sopran
Mein Jesus hat nunmehr
das Heilandwerk vollendet
und nimmt die Wiederkehr
zu dem, der ihn gesendet.
Er schließt der Erde Lauf,
ihr Himmel, öffnet euch, und nehmt ihn
wieder auf!
5. Arie – Sopran
Die Sopranarie beginnt und besingt die Vollendung des Werkes Christi und dessen Rückkehr in den Himmel. Die im Streicher- und Oboenklang verinnerlicht daherkommende Arie bezieht ihren eindrücklichen Gestus vor allem aus der verzierten Invokation des Namens Jesu, bevor der Mittelteil
dessen Aufstieg vom irdischen Lebenslauf zu den geöffneten Himmeln nachzeichnet.
6. Rezitativ — Bass
Es kommt der Helden Held,
des Satans Fürst und Schrecken,
der selbst den Tod gefällt,
getilgt der Sünden Flecken,
zerstreut der Feinde Hauf;
ihr Kräfte, eilt herbei und holt den Sieger auf.
6. Rezitativ – Bass
Nun wird das mit Christus verbundene Heilsgeschehen bedacht und mit apokalyptischen Kampfes- und
Reinigungsbildern erläutert. Bach komponiert dafür eine opernhafte Scena, deren als kraftvoller Anführer auftretender Bass von Streicherfanfaren und Orchestertremoli getragen wird.
7. Arie — Bass
Er ists, der ganz allein
die Kelter hat getreten
voll Schmerzen, Qual und Pein,
Verlorne zu erretten
durch einen teuren Kauf.
Ihr Thronen, mühet euch
und setzt ihm Kränze auf!
7. Arie – Bass
Die 3. Strophe des Himmelfahrtsgedichtes verwendet ein Wortbild des Propheten Jesaja (Kap. 63, 3) – das Keltertreten in der Weinbereitung, bei dem der ganze Körper mit rotem Traubensaft bespritzt ist, was typologisch auf die Passion Christi bezogen wird. Die als Trio ausgelegte Arie bringt die sieghafte Trompete zurück ins Geschehen; Bach wird gewusst haben, warum er die in ihrem Anspruch den Bass- und Continuostimmen ebenbürtige Clarinpartie in einer späteren Aufführung der Violine übertrug…
8. Rezitativ — Alt
Der Vater hat ihm ja
ein ewig Reich bestimmet:
Nun ist die Stunde nah,
da er die Krone nimmet
vor tausend Ungemach.
Ich stehe hier am Weg
und schau ihm freudig nach.
8. Rezitativ – Alt
Diese Passion ist vorbestimmt – ebenso wie er nun die Krönung Christi im Himmelreich nahe weiss.
Der Dichter steht am Weg und schaut «ihm freudig nach» – eine von Bach sensibel nachgezeichnete Evokation der gläubig antizipierten Nachfolge.
9. Arie — Alt
Ich sehe schon im Geist,
wie er zu Gottes Rechten
auf seine Feinde schmeißt,
zu helfen seinen Knechten
aus Jammer, Not und Schmach.
Ich stehe hier am Weg
und schau ihm sehnlich nach.
9. Arie – Alt
«Im Geiste» sieht der «sehnlich nachschauende» Textdichter seinen Christus – durchaus kriegerisch – die Feinde im Endkampf überwinden. Dieser Gestus der inneren Betrachtung des für alle Menschen stellvertretend geleisteten Streites wird durch die stille Besetzung mit zwei Oboen und Sopran unterstrichen, die dem a-Moll-Satz trotz textlicher Schärfen einen meditativen Charakter verleiht.
10. Rezitativ — Sopran
Er will mir neben sich
die Wohnung zubereiten,
damit ich ewiglich
ihm stehe an der Seiten,
befreit von Weh und Ach!
Ich stehe hier am Weg,
und ruf ihm dankbar nach.
10. Rezitativ – Sopran
Das Sopranrezitativ spricht davon, was diese Himmelfahrt für den Gläubigen bedeutet: Ihm ist – befreit von Schmerz und Jammer – eine Wohnung im Himmel bereitet. Und noch steht der Dichter am
Weg und ruft «ihm dankbar nach».
11. Choral
Du Lebensfürst, Herr Jesu Christ,
der du bist aufgenommen
gen Himmel, da dein Vater ist
und die Gemein der Frommen,
wie soll ich deinen großen Sieg,
den du durch einen schweren Krieg
erworben hast, recht preisen
und dir gnug Ehr erweisen?
Zieh uns dir nach, so laufen wir,
gib uns des Glaubens Flügel!
Hilf, daß wir fliehen weit von hier
auf Israelis Hügel!
Mein Gott! wenn fahr ich doch dahin,
woselbst ich ewig fröhlich bin?
Wenn werd ich vor dir stehen,
dein Angesicht zu sehen?
11. Choral
Der Schlusschoral bringt die erste und dreizehnte Strophe des Himmelfahrtsliedes «Du Lebensfürst»
von Johann Rist (1607–1667) – selbst Pfarrer und neben Paul Gerhardt einer der grossen lutherischen
Kirchenlieddichter. Es feiert den vollendeten Sieg Christi und wünscht für sich selber «Glaubens-Flügel», um von schrecklichen Realitäten (30-jähriger Krieg!) ins himmlische Reich zu fliehen und dort dem Heiland ins Angesicht schauen zu können. Aus unbekanntem Grund übernahm Bach dafür einen
bereits 1682 in Leipzig gedruckten vierstimmigen Satz Christoph Peters, ohne dessen Schlichtheit
nennenswert anzureichern.
Christoph Drescher
«Lobsinget Gott, lobsinget unserm Könige.»
Mit diesem Aufruf eröffnet der Chor Bachs Kantate BWV 43. Wenn Oboen, Trompeten und Pauken den Chor begleiten, wirkt die Musik ganz besonders energiegeladen vor Festlichkeit und Freude – und frohgestimmt möchte man einstimmen in dieses Lobsingen.
Johann Sebastian Bach hat die Kantate für Christi Himmelfahrt geschrieben. Für Bach wie für viele seiner Zeitgenossen war dies offensichtlich ein wichtiger Festtag – allein vier Kantaten sind uns für diesen Anlass von ihm erhalten, immer wieder hat er neue Kraft und Kreativität investiert, um den Himmelfahrtstag zu feiern. Es sind sehr festliche Werke, die in den Kantatenjahrgängen von 1724 bis 1726 für diesen Anlass zu finden sind – und gekrönt werden sie durch das Himmelfahrtsoratorium «Lobet Gott in seinen Reichen», das 1735 entstanden ist.
Im Jahr 1726, als diese Kantate entstand, hat Bach nicht nur eigene Musik aufgeführt, sondern unter anderem die Kantaten seines Meininger Vetters Johann Ludwig Bach in Leipzig vorgestellt. Deren ungewöhnliche Form mit der zentralen Vertonung eines Gedichts findet sich auch in Bachs Kantate 43 wieder. Aber für den Himmelfahrtstag griff er nicht auf bestehende Musik seines Cousins oder eines anderen von ihm geschätzten Komponisten zurück: Mit einem eigenen Werk wollte er «Gott, unserm Könige, lobsingen» und dies gross besetzt mit Trompeten, Pauken und Oboen tun.
Nun kann die Faszination von Christi Himmelfahrt kaum überraschen. Auch wenn es nicht das höchste der christlichen Feste ist, so ist der zu Gott in den Himmel auffahrende Jesus doch an eindrucksvoller Bildhaftigkeit kaum zu überbieten. Und es ist ja wirklich eine einzigartige Geschichte, die hier zu Ende geht. Die Sopranistin benennt es in ihrer Arie deutlich:
«Mein Jesus hat nunmehr / das Heilandwerk vollendet
Und nimmt die Wiederkehr / zu dem, der ihn gesendet.»
Da ist die Wirkungsgeschichte Jesu auf der Erde also zu ihrer Vollendung gekommen, sodass der Gottessohn in den Himmel zurückkehren kann. Das ist eine eindringliche Aussage, die dem Hörer Gewissheit geben sollte im Glauben an das Werk des Heilands und an die Existenz Gottes. Umso erstaunlicher, dass es bei dieser freudigen Botschaft auch Raum für Fragezeichen gibt. Denn im abschliessenden Choral lässt Bach den Chor bitten:
«Gib uns des Glaubens Flügel!»
Und er fragt gleichermassen sehnsüchtig wie ungeduldig:
«Wenn werd ich vor dir stehen / Dein Angesicht zu sehen?»
Mit diesen Worten, die 1641 von dem lutherischen Prediger Johann Rist geschrieben wurden, endet die Kantate in einem innigen Glaubenswunsch – der vor 300 Jahren natürlich in einer tiefen Gewissheit geschrieben wurde, als das Christentum die Norm unserer Gemeinschaft bildete.
In meiner Heimat, die auch Bachs Heimat war, ist dies heute nicht mehr so.
Himmelfahrt im Bachland Thüringen, das ist vor allem der Vatertag. Männer gehen an diesem Feiertag gerne wandern, teils mit Handwagen, in denen sie Bierkästen hinter sich herziehen. Dieses sehr profane Bild will so gar nicht passen zu der himmlischen Musik, die wir gerade gehört haben. Und doch funktioniert es als Illustration einer Fragestellung, die mich als Bach-Konzertveranstalter, aber auch viele Bach-Interpreten umtreibt: Was sagt Bachs Musik den Menschen, wenn sie nicht mehr glauben? Welche Kraft hat die Musik, wenn ihr mit dem verschwindenden Glauben scheinbar die primäre Wirkebene entzogen ist? Und was kann Bachs Musik vielleicht schaffen, was der christliche Glaube in seiner Vertretung durch die Kirche heute zuweilen nicht mehr vermag?
Diese Fragen mögen sich in Trogen und in unserer verschworenen Bach-Gemeinschaft weniger drastisch stellen. Und doch glaube ich, dass auch wir «Bach-Verrückten» uns zuweilen daran erinnern sollten: So unvergleichlich schön diese Musik ist, so ist sie eben doch zuallererst ein Werkzeug, ein Mittel, um eine Botschaft zu verkünden. Bachs primäre Aufgabe als Kantor und Komponist war es, der Liturgie und dem Kirchenjahr zu folgen, mit seinen Kantaten letztlich eine Art «Soundtrack» zu schreiben für die Vermittlung der christlichen Botschaft im Gottesdienst. Und so ging es bei aller Komplexität der Musik eben an erster Stelle immer um den Text, dem die Musik zur Vermittlung, zum besseren Verständnis verhelfen sollte.
Wenn wir besser verstehen wollen, warum diese Musik vor 300 Jahren von Bach so geschrieben wurde und warum sie diese letztlich bis heute anhaltende Wirkung entfalten konnte, dann lohnt der Versuch einer Zeitreise ins frühe 18. Jahrhundert. Ob in Arnstadt oder Mühlhausen, in Weimar oder später in Leipzig – wir sehen tiefgläubige Menschen vor uns, Menschen, die den Glauben nicht zuletzt brauchten, um die unvermeidlichen Schicksals-schläge ihres Lebens anzunehmen. Johann Sebastian Bach hat im Laufe seines Lebens fast ein Dutzend Kinder verloren: Wie kann ein Mensch das ertragen ohne ein Vertrauen auf die Erlösung durch Gott?
Nun waren sich die frommen Menschen der Bachzeit sicher in ihrem Glauben, sie waren fest verankert in ihrem religiösen Weltbild – und doch konnten sie nicht vorbereitet sein auf das, was Bach ihnen da an «musikalischer Verpackung» lieferte für die christliche Botschaft. Stellen wir uns die Kirchen der damaligen Zeit vor in ihrer immensen Grösse, in denen man im Sommer wie im eiseskalten Winter die Botschaft Gottes vernahm – und dann erklingt etwa das «Erbarme dich» aus der Matthäuspassion, das den Schmerz über das Leiden Jesu so direkt in unser Herz dringen lässt. Dies muss eine unglaubliche Erfahrung gewesen sein, so viel Gefühl zuzulassen in einer Welt, die eigentlich nur im Pragmatismus des schweren Alltags wie des ehrfürchtigen Glaubens zu ertragen war. Und so sind es oft diese Arien, die sich aus der Handlung einer Passion oder eines Oratoriums lösen und sich ganz der Würdigung eines Gefühls hingeben, die wir – damals wie heute – als atemberaubend empfinden und die uns förmlich hineinziehen in die Gedanken- und in die Gefühlswelt der biblischen Geschichte.
Dabei geht es keinesfalls nur um Trauer und Leid: Wenn das Erkennen, das Sehen des Herrn gefeiert wird, wie es der Bass in seiner Arie der Kantate 43 tut, dann kann das ja nur mit einer klar leuchtenden Trompete begleitet werden, die die Freude, die Kraft des «Er ists!» zu unterstreichen vermag.
Was für eine unfassliche Erfahrung muss es also gewesen sein, diese Musik zu hören und davon erreicht zu werden, damals vor 300 Jahren. Natürlich war es ein Selbstverständnis, Christ zu sein und zu glauben – in dieser Ehrfurcht aber Gefühle zuzulassen, Trauer, Ergriffenheit, Freude zu spüren und zuweilen zu einer geradezu körperlichen Erfahrung werden zu lassen, dazu vermochte Bachs Musik einen grossen Beitrag zu leisten.
Wie ist das nun aber heute?
Ihre Wirkung hat sich Bachs Musik auch nach 300 Jahren bewahrt. Wir alle wissen, spüren, dass Bachs Musik uns erreicht, etwas in uns auslöst. Dies gilt gar nicht nur für das sakrale Werk. Der französische Journalist Philippe Lancon, der schwer verletzt das «Charlie Hebdo»-Attentat 2015 überlebt hat, berichtet in seinem ergreifenden Buch «Der Fetzen» vom schweren Weg zurück ins Leben, bei dem ihm gerade der Friede in Bachs Musik und den Goldberg-Variationen ganz wesentlich geholfen hat. Derartige Geschichten gibt es viele, wir alle haben wohl unsere Erfahrungen damit, welchen Trost, welchen Frieden Bach zu schenken vermag.
Und von jenem Trost, von dieser Empathie spricht ja auch die Kantate 43, wenn die Altistin davon singt, wie Christus seinen Knechten «aus Jammer, Not und Schmach» hilft. Da ist von uns die Rede, von Wärme und Hilfsbereitschaft, die wir annehmen und erwidern, wenn wir eben – so der Text der Arie – am Wege stehen und Christus sehnlich nachschauen.
Welch schönes, anrührendes Bild!
Wenn mich Menschen ohne christlichen Hintergrund oder eine musikalische Vorbildung fragen, welches Bach-Konzert sie denn als Einstieg besuchen sollten, dann schicke ich sie gern in die Matthäuspassion. Die – ja, durchaus auch körperliche – Erfahrung dieser dreistündigen Vertonung der Leidensgeschichte Jesu erscheint mir besser geeignet als etwa ein Instrumentalkonzert, dem man sich leichter entziehen, das man vielleicht einfach nur «schönfinden» kann. Die Wucht von Werk und Botschaft hat dabei schon manchen mit Tränen in den Augen aus dem Konzert kommen lassen, die Zeit ebenso vergessend wie Vorbehalte gegen den Inhalt oder die Art der Musik.
Welche Wirkung ist es also, die uns so direkt zu ergreifen vermag? Ist es «nur» die einzigartige Musik oder doch auch eine christliche Botschaft, die durch sie vermittelt wird? Man kann das recht einfach ausprobieren, indem man den gesungenen Text bei den sakralen Werken schlicht weglässt. Es gibt ja durchaus Ensembles, die «Bach ohne Worte» musizieren. Oder man stelle sich den Eingangschor unserer Kantate 43 auf «Lalala» gesungen vor, was bleibt dann von der Wirkung dieser Musik?
Diese Frage ist dabei durchaus offen gemeint. Wir Deutschsprechenden sind uns wohl einig, dass die Text-Ebene von grosser Bedeutung ist. Tatsächlich hat aber etwa Paul McCreesh, der Leiter des Gabrieli Consorts und durchaus ein renommierter Bach-Interpret, mir nach seiner Aufführung der Matthäuspassion in diesem Jahr erst gesagt, dass der Text letztlich entbehrlich sei bei der immensen Stärke und Kraft der Komposition. Aber ist das so? Und wie interpretiere ich die Musik, wenn mir die Bedeutungsebene des Textes fehlt?
Für mich jedenfalls zeigt sich bei dieser Frage deutlich, dass Bachs Musik durchaus auch als Predigt wirkt. Seine Musik ist so offen, so klar und entwaffnend, dass sie eigentlich keine Zweifel am Sinn des Textes zulässt und damit ein Annehmen der Botschaft für manchen überhaupt erst ermöglicht.
Das ist heute vielleicht noch wichtiger als zu Bachs Zeit, denn natürlich hat Bach seine Musik in der Erwartung eines glaubenden Hörers geschrieben. Dass sie heute aber «trotzdem» wirkt und auch Nichtgläubige erreicht, das sagt doch viel über ihre Qualität wie eben über die Untrennbarkeit von Botschaft und Musik.
«Ja tausend mal tausend begleiten den Wagen»,
lautet der Text der Tenorarie in der Kantate 43. Von solchen Grössenordnungen kann man
im säkularen Osten Deutschlands, in dem ich lebe, heute nur noch selten sprechen: Nur eine Minderheit fühlt sich noch der Kirche zugehörig. Und doch kommen die Menschen in unsere Konzerte, hören die Texte von Picander, Franck oder Luther und sind augenscheinlich bereit, sich einzulassen auf eine Botschaft, für die ihnen sonst der Glaube fehlt.
Als Veranstalter erlebe ich, dass Kantaten oder Passionen in Kirchen weit mehr Menschen anziehen als Aufführungen in Konzertsälen. «Das gehört eben in die Kirche», sagen auch konfessionslose Besucher. Unser Publikum ist sogar dankbar dafür, nach einer Passion am Karfreitag nicht zu klatschen, sondern sich lediglich schweigend zum Dank zu erheben und die gerade erfahrene Geschichte mit sich zu nehmen. Ist es aber eine rein kulturgeschichtliche Wahrnehmung, eine Tradition, die dazu führt, dass man lieber frierend auf harten Holzbänken sitzt als im temperierten Konzertsaal mit guter Akustik? Das Feuilleton hat sie in der jüngeren Vergangenheit schon mal kritisch als «Bach-Christen» bezeichnet, diese bürgerliche Schicht, die sich zwar nicht mehr als gläubig bezeichnet, die Tradition des Weihnachtsoratoriums im Dezember, einer Passion vor Ostern und vielleicht sogar einer sonntäglichen Kantate im Radio gleichwohl nicht missen möchte. Aber ist das denn etwas Negatives?
Als der amerikanische Musikwissenschaftler Michael Marissen vor ein paar Jahren sein Buch über Bach und Religion «Bach and God» veröffentlicht hat, wurde er von der «New York Times» gefragt, warum er diesen Titel in dieser Reihenfolge gewählt habe. Seine lakonische Antwort: «Bach & God? That’s redundant. But if it’s a contest, we name the winner first.»
Nun ist diese kompetitive Gegenüberstellung natürlich kaum ernst gemeint. Doch können wir dem sehr wohl eine Botschaft entnehmen: Bach hat mit seiner Musik auch heute noch (oder mehr denn je?) die Kraft, Antworten zu geben und Trost zu spenden. Und wenn wir im Glauben an Bach vereint sind, sind wir dies letztlich auch im Glauben an Gott, wie auch immer wir ihn nennen. Dies kann man aus kirchlicher Sicht als «zu wenig» oder «zu unkonkret» bedauern – oder als Chance sehen, hat doch der religiös ungebundene Hörer viel stärker die Möglichkeit, die Botschaft Christi neu zu hören und für sich anzunehmen.
«Wenn es jemanden gibt, der Bach alles verdankt, so ist es Gott», hat der rumänische Philosoph Emil Cioran geschrieben. Dies mag ein wenig blasphemisch klingen, ist im Kern aber vielleicht das wirklich grosse Vermächtnis Bachs:
Wo die christliche Religion an die Grenzen unseres modernen Lebens stösst, da findet Bachs Musik die richtigen Antworten. Und wenn wir Bachs Werk als untrennbares Ereignis von Text und Musik akzeptieren und nicht theologische und künstlerisch-ästhetische Perspektiven gegeneinander ausspielen, dann können wir wohl in genau jener Unbestimmtheit zwischen Kunst und Religion eine Lücke für uns und unsere Seelenlagen finden.
Bei den diesjährigen Thüringer Bachwochen war es für mich ein sehr bewegender Moment, als ein Dirigent nach seinem Konzert in der Eisenacher Georgenkirche fast erschüttert an Bachs Taufstein stand und meinte, welch grosses Glück es doch sei, dass dieses kleine Baby, das da am 23. März 1685 getauft wurde, schlicht überlebt hätte. Er selbst, so meinte er, wäre heute sonst sicherlich kein Musiker. Was ich mich seither frage: Wie viele von uns allen wären dann heute noch Christen?
«Ich stehe hier am Weg und schau ihm sehnlich nach»,
lautet die wiederkehrende Textzeile des Gedichts, das Bach in der zweiten Hälfte unserer Kantate vertont hat. Diese Sehnsucht nach Sinn, nach innerem Frieden und Erlösung verstehen wir heute genauso wie 1724, auch ohne die Basis des christlichen Glaubens. Was bleibt, ist die Suche nach, das Hoffen auf etwas Höheres, auf Gott. Und dies hat dann wieder etwas von jener Kraft, die schon den frommen Hörer vor 300 Jahren ergriffen hat.
Soli Deo Gloria – Gott allein sei die Ehre – hat Bach unter viele seiner Werke geschrieben, nicht nur unter Kirchenmusik. Vielleicht braucht man dies gar nicht zu übersetzen und zu erklären. Bachs Musik erklärt alles Höhere aus sich selbst.