Und es waren Hirten in derselben Gegend

BWV 248/2 // Weihnachtsoratorium

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Traversflöte I+II, Oboe d’amore I+II, Oboe da caccia I+II, Streicher und Basso continuo

Die Kantate bildet den II. Teil des am Jahreswechsel 1734/35 von Bach auf sechs Sonn- und Festtage hin kompilierten Weihnachtsoratoriums. Anders als im trompetenglänzenden «Jauchzet, frohlocket!» des Weihnachtsmorgens stehen hier die pastorale Klangwelt der Hirten mit ihren Flöten und Rohrblättern sowie das Jesuskind in der Krippe im Vordergrund, das Maria in ihrer berühmten «Schlafe»-Arie liebevoll umhegt. Während sich die Erscheinung der «himmlischen Heerscharen» auf Erden in einem rauschenden «Ehre»-Chor manifestiert, hat Bach für die Begegnung von Engeln und Hirten berückende Töne gefunden. Bildet doch die der Kantate vorangestellte Sinfonia – eine der wenigen Originalkompositionen des Zyklus – mit ihrem unnachahmlich zarten Dialog der Sphären ein Stück musikalischer Weltliteratur…

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 248_2

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Lia Andres

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Daniel Johannsen

Bass
Daniel Pérez

Chor

Sopran
Lia Andres, Olivia Fündeling, Jessica Jans, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel

Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey Sutter, Alexandra Rawohl, Simon Savoy, Lisa Weiss

Tenor
Marcel Fässler, Tobias Mäthger, Nicolas Savoy, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Tobias Wicky, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Ildikó Sajgó, Cecilie Valter, Peter Barczi

Viola
Martina Bischof, Sarah Mühlethaler, Carlos Valles Garcia

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Markus Bernhard

Oboe d‘amore
Andreas Helm, Ann Cathrin Collin

Oboe da caccia
Katharina Arfken, Alek Fester

Flauto traverso
Yoko Tsuruta, Tomoko Mukoyama

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Dirk Börner

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Karl-Josef Kuschel

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
14.12.2018

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
Zweiter Weihnachtstag, 26. Dezember 1734

Textdichter
Wahrscheinlich Johann Friedrich Henrici (Picander); Lukas 2:8-9; Johann Rist (Nr. 12); Paul Gerhardt (Nr. 17 und 23)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Kantate bildet den II. Teil des am Jahreswechsel 1734/35 von Bach auf sechs Sonn- und Festtage hin kompilierten Weihnachtsoratoriums. In Zusammenarbeit mit seinem Textdichter Picander gelang Bach hier die Verknüpfung einer zyklischen Evangelienvertonung mit kantatenmässigen freien Einlagen, für die er überdies grosse Teile seiner in den Vorjahren entstandenen Huldigungskantaten für Angehörige des polnisch-sächsischen Herrscherhauses via Parodie wiederverwenden konnte. Anders als im trompetenglänzenden «Jauchzet, frohlocket!» des vorhergehenden ersten Weihnachtsmorgens stehen nun die pastorale Klangwelt der Hirten mit ihren Flöten und Rohrblättern sowie das Jesuskind in der Krippe im Vordergrund, das Maria in ihrer berühmten Arie «Schlafe, mein Liebster» liebevoll umhegt. Während sich die Erscheinung der «himmlischen Heerscharen» auf Erden in einem rauschenden «Ehre»-Chor manifestiert, hat Bach für die Begegnung von Engeln und Hirten berückende Töne gefunden. Bildet doch die der Kantate vorangestellte Sinfonia – eine der wenigen Originalkompositionen des gesamten Zyklus – mit ihrem unnachahmlich zarten Dialog der Sphären ein Stück musikalischer Weltliteratur.

10. Sinfonia

10. Sinfonia

Durchgängig in wiegendem Sicilianogestus gehalten, wird die Sinfonia von Streichern und Flöten eröffnet, die die Sphäre der Engel vertreten und eine Szenerie entwerfen, in die die von den Bordunen und Schalmeien der Hirtenwelt inspirierten vier Holzbläser erst zaghaft eintreten und sich dann zusehends ins Gespräch mischen. Im Dialog beider Klanggruppen entwickelt die nächtliche Verkündigung eine alle barocken Parallelstücke überragende Intensität: Gott wird hier hörbar ebenso Mensch, wie die furchtsamen Hirten in den befreiten Gesang der Engel einstimmen dürfen.

11. Rezitativ (Evangelist: Tenor)

«Und es waren Hirten in derselben Gegend
auf dem Felde
bei den Hürden, die hüteten des Nachts
ihre Herde. Und
siehe, des Herren Engel trat zu ihnen,
und die Klarheit des
Herren leuchtet um sie,
und sie furchten sich sehr.»

11. Rezitativ

Nicht Mächtige oder Fromme, sondern die Aussenseiter, die unreinen Hirten vom Felde hören als erste die Botschaft von der Geburt des Messias. Das Rezitativ aus Lukas 2, 8–9 akzentuiert auf Luthers schöne Übersetzung «die Klarheit des Herren» (nicht «Herrlichkeit», wie so oft übersetzt wird).

12. Choral

Brich an, o schönes Morgenlicht,
und laß den Himmel tagen!
Du Hirtenvolk, erschrecke nicht,
weil dir die Engel sagen,
daß dieses schwache Knäbelein
soll unser Trost und Freude sein,
dazu den Satan zwingen
und letztlich Friede bringen!

12. Choral

Das klärende Licht, das durch diese Geburt in die Welt kommt, wird mit dem Choral «Brich an, du schönes Morgenlicht» von Johann Rist (1607–1667) auf kraftvoll vierstimmige Weise besungen.

13. Rezitativ — Duett (Evangelist: Tenor, Engel: Sopran)

Evangelist
Und der Engel sprach zu ihnen:
Engel
«Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt David.»

13. Rezitativ

(Duett Evangelist, Engel: Sopran) Der Evangelist (Lukas 2, 10–11) überlässt die Verkündigung der guten Botschaft von der grossen Freude einer engelhaft schönen Stimme: Christus (= der Messias), der Herr (= Königstitel), geboren in der Stadt Davids (= der Königsstadt).

14. Rezitativ — Bass

Was Gott dem Abraham verheißen,  das läßt er nun dem Hirtenchor erfüllt erweisen. Ein Hirt hat alles das zuvor von Gott erfahren müssen. Und nun muß auch ein Hirt die Tat, was er damals versprochen hat, zuerst erfüllet wissen.

14. Rezitativ

Das Bassrezitativ kommentiert und schlägt den Bogen von der alttestamentlichen Verheissung Gottes an Abraham, den Nomaden (Genesis 12), zu den Hirten vor Bethlehem, womit die Verheissung ihre Erfüllung findet.

15. Arie — Tenor

Frohe Hirten, eilt, ach eilet,
eh ihr euch zu lang verweilet,
eilt, das holde Kind zu sehn!
Geht, die Freude heißt zu schön,
sucht die Anmut zu gewinnen,
geht und labet Herz und Sinnen!

15. Arie

Nachdem sie die Botschaft vernommen haben, sollen die Hirten, von beschwingten Flötenklängen begleitet, nun auch aufbrechen, um das Kind zu sehen. Die atemberaubenden Koloraturen der Singstimme betonen das Herausgehobene der Situation, die durch die Verwendung einer Traversflöte einen betont edelmütigen Zug erhält, der bereits den «frommen Musen» der Huldigungskantate BWV 214 gut anstand.

16. Rezitativ (Evangelist: Tenor)

«Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.»

16. Rezitativ

Der Evangelist (Lukas 2, 12) betont das Geheimnisvolle dieses Geschehens (Zeichen, griech. Semeion): Das Kind wird in einer einfachen Krippe, in schlichten Windeln, zu finden sein.

17. Choral

Schaut hin, dort liegt im finstern Stall,
des Herrschaft gehet überall!
Da Speise vormals sucht ein Rind,
da ruhet itzt der Jungfrau’n Kind.

17. Choral

Die achte Choralstrophe aus Paul Gerhardts «Schaut! Schaut! Was ist für Wunder dar?» (auf der Melodie «Vom Himmel hoch») kommentiert und verdeutlicht: Ein dunkler Stall für Tiere wird zu dem Ort, an dem das Kind der Jungfrau, der künftige friedliche Herrscher, geboren wird. Bachs Choralsatz ist nicht nur musikalisch makellos, sondern auch von berührender Eindringlichkeit («Da ruhet itzt der Jungfrau’n Kind»).

18. Rezitativ — Bass

So geht denn hin, ihr Hirten, geht, daß ihr das Wunder seht! Und findet ihr des Höchsten Sohn in einer harten Krippe liegen, so singet ihm bei seiner Wiegen aus einem süßen Ton und mit gesamtem Chor dies Lied zur Ruhe vor:

18. Rezitativ

Das Rezitativ betont noch einmal das Motiv des Niedrigen (harte Krippe) und Hohen (der Sohn Gottes) und regt zum Wiegenlied an, das sogleich folgen wird.

19. Arie — Alt

Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh,
wache nach diesem vor aller Gedeihen!
Labe die Brust,
empfinde die Lust,
wo wir unser Herz erfreuen!

19. Arie

Das Wiegenlied der Altarie ist zart und zugleich von überraschender Sinnlichkeit, weil sie die frühkindliche Lust an der Brust besingt, ein Motiv, an dem vielleicht auch Sigmund Freud seine Freude gehabt hätte. Bach gelang dabei die Transformation einer kosenden Liebesmusik aus der weltlichen Vorlage BWV 213 in ein von mütterlicher Fürsorge geprägtes Da-capo-Schlummerlied von himmlischer Länge und Ruhe.

20. Rezitativ (Evangelist: Tenor) 

«Und alsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:»

20. Rezitativ

Der Evangelientext Lukas 2, 13 ist nur ein knapper Hinweis auf das, was folgt: auf den himmlischen Lobgesang der Engel.

21. Chorus

«Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.»

22. Rezitativ — Bass

So recht, ihr Engel, jauchzt und singet, daß es uns heut so schön gelinget! Auf denn! Wir stimmen mit euch ein; uns kann es so wie euch erfreun

22. Rezitativ

Das Bassrezitativ «So recht, ihr Engel» verbindet das damalige «Heute» des Ereignisses mit dem «Heute» des Weihnachtsfestes: «Auf denn! Wir stimmen mit euch ein.»

23. Choral

Wir singen dir in deinem Heer
aus aller Kraft Lob, Preis und Ehr,
daß du, o lang gewünschter Gast,
dich nunmehr eingestellet hast.

23. Choral

Dieses abschliessende Einstimmen geschieht noch einmal mit den Worten aus der zweiten Strophe des Weihnachtschorals von Paul Gerhardt «Wir singen dir, Immanuel» – das auf seine Weise dem Gloria beistimmt und es bekräftigt. Wie in der Kantate I mit ihren Trompetenfanfaren hat Bach auch diesen Choral mit Zwischenspielen versehen, die die färbenden Holzblasinstrumente dieses Tages einsetzen – eine reizvolle Konzeption, die Bach ab der Kantate III jedoch aufgab.

Reflexion

Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel

Kleine Reflexion über die heiligen Nächte der Weltreligionen und was daraus folgt

«Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde…»

(J. S. Bach «Weihnachtsoratorium»)

Auch die Szene mit Hirten und Engeln aus dem Evangelium des Lukas wurde von Bach in seinem Weihnachtsoratorium musikalisch ausgestaltet. Und zwar in einer so vielfältigen, teils dramatischen, teils ergreifenden musikalischen Formensprache, dass man ein Detail in dieser Szene leicht übersieht. Eine Symphonie, einen Choral, Rezitative und eine Arie: alles bietet Bach hier auf, um die Zäsur, welche die Geburt des Erlösers markiert, musikalisch hörbar zu machen, ja als Erfüllung eines uralten, schon dem Patriarchen Abraham gegebenen Versprechens auf die Ankunft des Messias darzustellen. Mit für Bachs Theologie charakteristischen dialektischen christologischen Figuren, die Erbe seines Luthertums sind: Gerade dieses vom Menschen her gesehene «schwache Knäbelein» soll von Gott her «unser Trost und Freude sein». Woraus folgt: Mit dem Erscheinen dieses Christus ist das angeblich Kleine, Schwache, Unscheinbare von Gott her gross, stark und weltbewegend: «Schaut hin, dort liegt im finstern Stall, Des Herrschaft gehet überall!» Solch dialektische christologische Figuren tauchen im Weihnachtsoratorium immer wieder auf.

Angesichts dieser für Bach typischen grossen heilsgeschichtlichen Konzeption scheint ein Detail in dieser Hirten­Engels­Szene kaum der Beachtung wert. Sie spielt in einem Ort namens Bethlehem, diese Szene, gewiss, aber sie spielt auch in der Nacht. Warum «Bethlehem», wird beim Evangelisten geklärt. Es ist der Herkunftsort von Israels grossem König David (1. Sam 16) und der Messias, den man mit dem Propheten Micha im Volk Israel erwartet, muss ein Davidssohn sein, wenn er als Messias ernst genommen werden will. Aber die Nacht? Ein Zufall? Nicht weiter von Bedeutung? Doch schaut man genau hin, so lässt diese präzise Zeitangabe auch die zuvor von Lukas geschilderte Geburt Jesu im Stall einer überfüllten Fremdenherberge als ein Ereignis derselben Nacht erscheinen. Sonst wüssten wir das nicht. Die Geburt Jesu, die Engelserscheinung vor den Hirten, die anschliessende Huldigung durch die Hirten also: immer geschieht hier alles in der Nacht. Westliche Christen nennen denn auch nicht zufällig die Nacht von Bethlehem ihre «Heilige Nacht», feiern sie seit langer Zeit. Neben der Osternacht ist es ihre besondere Nacht. «Stille Nacht, heilige Nacht» heisst ja auch nicht zufällig das populärste Weihnachtslied weltweit. 200 Jahre wird es in diesem Jahr alt.

Man hält sie in der Regel für etwas exklusiv Christliches: unsere »heilige Nacht». Man täuscht sich. Auch andere Religionen kennen «Heilige Nächte». Es sind – zumindest was die grossen Religionen angeht – weitere drei in der Geschichte der Menschheit: die Nacht der Erleuchtung des Buddha, die Nacht des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten und die Nacht der Herabkunft des Koran.

Über diese vier «Heiligen Nächte» will ich im folgenden nachdenken und dabei auch der Frage nachgehen: Ist es ein Zufall, dass in entscheidenden Momenten in der Religionsgeschichte der Menschheit die Nacht eine so wichtige Rolle spielt? Ist damit eine besondere Symbolik verbunden, eine konkrete Botschaft?

I.
Wer je im Monat Mai für längere Zeit buddhistische Länder wie Sri Lanka bereist haben sollte, Myanmar, Nepal oder Thailand, wird «Vesak» nicht versäumt haben. Vesak ist das grösste Fest in der Welt des Buddhismus, das in der ersten Vollmondnacht des Monats Mai gefeiert wird. «Dreimal heilig» wird es genannt. Denn Buddhisten dieser Tradition feiern in dieser Nacht bei Fasten und mit PujaZeremonien ein Dreifaches: die Geburt des Buddha, seine Erleuchtung und sei- nen Tod als Eingang ins endgültige Verlöschen. In eine Welt feudaler Privilegien war Prinz Siddhartha Gautama hineingeboren worden, aber im Alter von 29 Jahren bricht er mit dieser Welt, als er nach Ausfahrten aus seinem Palast wahrzunehmen beginnt, unter welchen Bedingungen Menschen im Alltag leben müssen: Krankheit, Alter, Sterblichkeit. Alles Leben? Es ist mit Leiden getränkt. Was aber ist die Ursache dafür? Die Lebensgier. Und Siddhartha glaubt zunächst, diese Gier in strengster Askese gegen sich selbst abtöten zu können.

Nach sechs Jahren gelingt ihm der Durchbruch. Drei Nachtwachen in tiefer Versenkung braucht er. Zunächst wird ihm der ewige Kreislauf des Daseins bewusst, indem er sich an Hunderttausende früherer Leben erinnert. Danach versteht er das Gesetz von Ursache und Wirkung, das diesem Kreislauf zugrunde liegt und das Werden und Vergehen aller Wesen bestimmt, je nachdem sie zu Lebzeiten gut oder schlecht gehandelt, gedacht oder gesprochen haben. Dadurch wird ihm klar, wie alles voneinander abhängig ist, wie Leid entsteht und wie es überwunden werden kann. Jetzt ist Siddhartha zur «allerhöchsten vollkommenen Erleuchtung» vorgestossen. Er wird zum Buddha, zu dem «Erwachten» schlechthin, und bündelt seine Erkenntnisse in die «vier edlen Wahrheiten» über die Ursachen des Leidens und den «achtfachen Pfad» zu dessen Überwindung. So die buddhistische Überlieferung. Sie hat der Nacht eine besondere Bedeutung gegeben. Sie ist keine beliebige Zeit mehr, austauschbar mit anderen Zeiten. In der Buddha­Geschichte ist die Nacht eine Zeit der tiefen Einsicht des Menschen in Grundbedingungen seines Lebens und Leidens sowie einer besonderen Offenheit für Erkenntnis, ja für Erleuchtung. Kurz: Die buddhistische Überlieferung macht in der Religionsgeschichte der Menschheit die Nacht zu einer Zeit der Erschliessung des wahren Wesens der Welt.

II.
Anders im Judentum, einer Religion nicht der mystischen Versenkung und Erleuchtung, sondern einer durch Propheten verkündeten Offenbarung Gottes. Im Zentrum die epochale Gestalt des Moses. Nicht dessen Geburt wird «wunderbar» ausgestaltet, wohl aber sein Überleben, seine «zweite Geburt». Ausgerechnet von einer Tochter des Pharao wird das im Nil ausgesetzte Hebräerkind gerettet und am Hofe des ägyptischen Königs erzogen. Aber genau das befähigt Mose zu seiner kommenden Mission: Führer zu sein bei der Rettung des Volkes Israel aus der Sklaverei Ägyptens. Und wieder treffen wir auf das Motiv der Nacht. Es ist die Nacht vor dem Exodus aus Ägypten. So einschneidend ist dieses Ereignis, dass es bis heute von Juden in aller Welt zu Beginn des Pessach-­Festes gefeiert wird: am Seder­-Abend, an dem die Pessach-­Haggada verlesen wird. Überall, wo nach Sonnenuntergang gläubige Juden in einer Familie zusammenkommen, läuft ein Ritual besonderer Art ab. Das Familienoberhaupt spricht den Segen über die Speisen, dann ein Dankgebet, und der Jüngste in der Familie darf die traditionelle Frage stellen: «Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?» Worauf die Tischgemeinschaft antwortet: «In jeder anderen Nacht essen wir gesäuertes und ungesäuertes Brot, in dieser Nacht nur ungesäuertes; in jeder anderen Nacht essen wir jede Art Kräuter, in dieser Nacht Bitterkraut.» Und so geht es noch eine Weile weiter bis zur Pointe: «Einst waren wir Sklaven des Pharao in Ägypten, aber der Ewige, unser Gott, führte uns von dort heraus.»

Damit unterscheidet sich die jüdische Überlieferung signifikant von der buddhistischen. Denn sie macht in der Religionsgeschichte der Menschheit die Nacht nicht zu einer Zeit der Erleuchtung, sondern zu einer Zeit der Erwartung, zu einer Zeit nicht nur des Endes der Unwissenheit, sondern des Endes der Unfreiheit. Gerade Christen haben allen Grund, dieser Exodus­Nacht ihrerseits besonders zu gedenken, hat doch Jesus selber unmittelbar vor Verrat und Verhaftung die Nacht zum Pessach­-Fest mit seinen Jüngern verbracht und ein Seder­-Mahl gehalten. Durch diese besondere Nacht bleiben gerade Juden und Christen ein für alle Mal in einer Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft miteinander verbunden.

III.
Und die Muslime? Auch sie kennen eine «Heilige Nacht». Es ist die Nacht der Herabkunft des Koran. In dieser Nacht des Jahres 610 beginnen die Offenbarungen an den Propheten Mohammed, die sich bis 632 über 22 Jahre erstrecken werden. An sie, die «lailat-al-qadr», wird in den letzten Tagen des Fastenmonats Ramadan erinnert, und das hier begangene Fest ist eines der grössten in der Welt des Islam. «Nacht der Bestimmung» wird diese Nacht genannt, auch «Nacht des Friedens». So heisst es in Sure 97: «Wir haben den Koran hinabgesandt in der Nacht der Bestimmung. Woher willst du wissen, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist gehen in ihr hinab mit der Erlaubnis ihres Herrn wegen jeglicher Verfügung. Friede ist sie bis zum Aufgang des Morgens.» (Sure 97, 1–5) So die muslimische Überlieferung. Sure 97 macht in der Religionsgeschichte der Menschheit die Nacht nicht zu einer Zeit der Erleuchtung, nicht zu einer Zeit der Erwartung, sondern zu einer Zeit der Offenbarung Gottes an die Menschen. Damit ist auch in der Welt des Islam die Nacht eine besondere Zeit: eine Zeit, in der Menschen eine besondere Nähe zu ihrem Schöpfer verspüren, in der Engel und Gottes Geist herabsteigen und Menschen öffnen können für die Präsenz des göttlichen Wortes.

IV.
Und die «Heilige Nacht» der Christen? Wir erinnern uns an den dramatischen Ablauf, von dem der Evangelist Lukas berichtet. Zuerst «der Engel des Herrn» allein vor den Hirten: «Fürchtet euch nicht … grosse Freude … euch ist … der Heiland geboren …» Ankündigung des von Israel erwarteten Messias also. Dann erscheint noch ein «grosses himmlisches Heer» von Engeln, bricht in ein Lob Gottes aus und verkündet über Israel hinaus eine universale Botschaft für die ganze Menschheit: Gottes Friedensherrschaft auf Erden. Wenn Christen also ihrer «Heiligen Nacht» eingedenk sind, dann tun sie nichts Beliebiges oder bloss Gefühlsseliges, sondern sehen sich auf eine universale Verheissung verpflichtet: den gottgewollten Frieden für Israel und die Weltvölker. Nichts weniger ist mit der Geburt Jesu angekündigt.

Das ist das Vermächtnis, an das die Geburt Jesu Jahr für Jahr erinnert. Billiger ist es nicht zu haben, wenn man die Botschaft nicht in blossem Kommerz verschleudert oder in sentimentaler Gefühligkeit verdampft, sondern befreiungstheologisch ernst nimmt.

Von Anfang bis heute steht sie kontrafaktisch zu allen Weltmächten, die den gottgewollten Weltfrieden schänden und die Welt lieber zum Teufel gehen lassen. Als sei der Satan immer noch los. Hier hat Bach gerade mit seinen deutenden Chorälen die unverwechselbare urchristliche Botschaft zusammengefasst und der christologischen Dialektik zeitkritische Brisanz verliehen. Gewiss in einer uns heute fremd gewordenen Sprache, aber nichtsdestotrotz in der Sache ein für alle Mal gültig, wenn es heisst:

«Du Hirtenvolk, erschrecke nicht,
Weil dir die Engel sagen,
Dass dieses schwache Knäbelein
Soll unser Trost und Freude sein,
Dazu den Satan zwingen
Und letztlich Frieden bringen!»

Diese bethlehemische Nacht, in der das Unscheinbare und Schwache von Gott erwählt und das Niedrige und Verachtete erhoben wird, ist die «Heilige Nacht» für Christen, unverwechselbar in ihrer Botschaft, aber als Nachterfahrung nicht exklusiv. Es ist keine Nacht der Erleuchtung wie bei Buddha, keine Nacht der Befreiung wie bei Mose, keine Nacht der Herabkunft einer Wortoffenbarung wie bei Mohammed, wohl aber die Nacht einer grossen Verheissung auf Gottes Frieden für Israel und die Völkerwelt.

Warum aber spielt die Nacht in den Anfängen grosser Religionen eine so wichtige Rolle? Womit hängt das zusammen? Eine Antwort ist jetzt fällig und dürfte in dieser Richtung zu suchen sein: Die Helligkeit des Tages erlaubt eine Unterscheidung im Raum zwischen oben und unten. Himmel und Erde sind optisch klar getrennt. In der Nacht aber verschmelzen oben und unten, kommt es zu einer Einheitserfahrung des Raums. Und dieses Moment entspricht einer religiösen Erfahrung. So wie der Himmel sich des Nachts zur Erde «zu neigen» scheint, so neigt sich Gott der Welt zu. Gott und Mensch berühren sich für einen Moment. Hinzu kommt das Motiv des Kontrastes, nutzen doch alle Religionen die kontrastive Symbolsprache des Lichts: Licht, das ins Dunkel scheint, Helle, die mit der Finsternis kämpft, Erleuchtung, welche die Verblendung vertreibt.

Und hinzu kommt auch dies: Die Nacht ist für ungezählte Menschen eine Zeit besonderer Wachheit, Empfänglichkeit, Feinfühligkeit für das Geheimnisvolle und Unbegreifliche. Deshalb haben Träume hier ihren Ort. Sie sind Kontaktstellen mit dem Verborgenen in uns selbst, dem Entzogenen, dem Unbewussten. Sie liefern Bildsequenzen und Symbolketten für Unfassliches in uns und zeigen, wie sehr die Nacht eine Zeit des Empfangens sein kann. Denn Träume «produzieren» wir Menschen nicht so wie wir Werkstücke oder Kopfgespinste produzieren. Träume, so sehr sie aus uns selber kommen, sind Widerfahrnisse. Wir Menschen erleben uns dabei nicht als «Machende», sondern als Empfangende, Beschenkte, Gedeutete. Sich so erleben ist die religiöse Urerfahrung schlechthin. Wer wie ich einmal in dieser Nacht von Jerusalem nach Bethlehem gelaufen ist, um in der Geburtskirche zu beten, wird den Zauber einer solchen Nachtwanderung unterm Sternenhimmel niemals vergessen, das scheue Betreten der Geburtskirche und das Aufsuchen der «Geburtsgrotte», die einen noch anzurühren vermag trotz ungeheurer Überlagerung durch Kitsch drinnen und politische Konflikte draussen.

Weihnachten 2018: Wie oft ist sie geschändet und verraten worden, diese grosse Verheissung, auch im Jahr 2018. Aber ist sie widerlegt? Wertloses Gerede? Unsere Welt wäre noch trostloser, gäbe es sie nicht. Gerade in gegenwärtiger Weltstunde, die einmal mehr in zu vielen Regionen dieser Erde ein Übermass an Hass, Mord, Zerstörung und Vertreibung erlebt, von religiös negativen Energien zusätzlich befeuert. Gott sei es geklagt. Die Alternative wider eine bleierne Vergleichgültigung oder eine achselzuckende Resignation? Frieden kommt nicht von allein. Es gilt ihn den Friedensschändern zu entreissen und selber Gegenzeichen des Friedens zu setzen. Wodurch?

Erstens durch Achtsamkeit auf die inneren Verbindungen etwa zwischen Juden, Christen und Muslimen. Viel zu wenigen ist bekannt, dass die Geburt Jesu auch im Koran eine wichtige Rolle spielt, und zwar gleich in zwei grossen Suren: 19, 16–34 und 3, 42–48. Jesus erscheint hier als der «Gesandte Gottes», nicht von einem Mann gezeugt, sondern vom Geist Gottes geschaffen, von seiner Mutter jungfräulich empfangen und geboren. Ursprung der Sendung Jesu ist also auch dem Koran zufolge Gott selbst. Er setzt damit weiteres Zeichen seiner Schöpferkraft und Barmherzigkeit. So wie die Pessach­Nacht in besonderer Weise Juden und Christen verbindet, verbinden Jesu Geburtsgeschichten im Koran Muslime und Christen. Vielfach habe ich es selber erlebt: Schon jetzt werden wechselseitig Friedensgrüsse zum Geburtsfest Jesu zwischen Kirch-und Moscheegemeinden ausgetauscht. Wir haben allen Grund, dies zu intensivieren und öffentlich zu machen.

Gegenzeichen des Friedens setzen zweitens durch Achtsamkeit für die Präsenz von Andersglauben als Andersglaubenden in unserer Nähe. Gerade das Wissen um die jeweiligen «heiligen Nächte» könnte so etwas wie ein vernetztes Denken stimulieren. Aus einer Kultur der Achtsamkeit wird eine Kultur der Anteilnahme. Wer seine «Heilige Nacht» feiert, sollte sich zugleich verbunden wissen mit all denen, die mit derselben Offenheit für das wahrhaft Göttliche ihre «Heilige Nacht» feiern.

2019 werden Buddhisten auch in der Schweiz Vesak am 19. Mai feiern, Juden den Seder­-Abend am 20. April, Muslime die «Nacht der Bestimmung» am 1. Juni und Christen die «Nacht von Bethlehem» wie immer am 24. Dezember. «Keine Religion ist eine Insel», habe ich bei einem der grössten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts gelernt, Abraham Joshua Heschel. Ein Wort, das mir zum Leitwort meiner Arbeit geworden ist: «Keine Religion ist eine Insel. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinde haben Folgen für andere Gemeinden. Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion.»

Zur Vertiefung der Weihnachtsthematik sei auf drei Publikationen von Prof. Kuschel verwiesen (alle Bücher erschienen im Patmos-Verlag Stuttgart-Ostfildern).

Das Weihnachten der Dichter. Originaltexte von Thomas Mann bis Rainer Kunze (Neuausgabe 2011); Weihnachten bei Thomas Mann (2006); Weihnachten und der Koran (2008)

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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