Anselm Hartinger
Wie findest du für dich jeweils einen Zugang zu Bachs nach Form, Besetzung, Affekt und Ausdehnung so unterschiedlichen Kantaten? Suchst du nach Leitideen für jedes Werk?
Rudolf Lutz
Ich gehe auf jede Kantate individuell zu. Ich lese und lerne zuerst den Text, versuche, die theologischen Zeichen zu deuten und komme dann zu Bachs musikalischer Umsetzung. Die Partitur muss gelernt werden, das ist harte Arbeit, besonders bei der polyphonen Dichte der Bachschen Konzepte. Dabei analysiere ich die Werke und versuche, das je Eigene der einzelnen Teile der Kantate zu verstehen. Viel Arbeit verwende ich auf die Vorbereitung der Aufführung, womit ich die Festlegung interpretatorischer Leitplanken meine. Auch das im engeren Sinne Dirigentische muss geübt werden, wie auch das Lesen und Auswerten von Sekundärliteratur zum Aufgabenkreis der Vorbereitung gehört.
Im Ergebnis dieser vorbereitenden Arbeiten bildet sich langsam ein Gesamtbild der Kantate heraus. Das Libretto wird zu einer Art Drehbuch mit einer Entwicklungskurve. In diesem Sinn würde ich nicht pauschal von einer «Vertrauenskantate» oder einer «Anfechtungsmusik » reden. Eher liefern die Kantaten Antworten auf stets wiederkehrende existentielle Lebensfragen: es geht um die Bewältigung von Not, Bedrohung, Anfechtung, Gefahr, Krankheit und Sündhaftigkeit. Ich finde dabei stets ähnliche Kurvenbilder. Etwa BWV 81: Aus der Not des Alleingelassenseins, der Desorientierung, der Anfechtung durch Belial erwächst das Angebot der Hilfe an den Kleingläubigen. Jesus erscheint als starker Arm. So anders die Kurve bei BWV 129 ausschauen mag, da Lob, Dank und Sicherheit in Gott dem Dreieinigen im Vordergrund stehen, so ist dennoch auch hier die Notbewältigung angesprochen und schlussendlich zentral. BWV 182 besingt schliesslich den Himmelskönig, der durch sein Leiden unsere Seele auf Rosen bettet. Es ist wie ein Thema mit Variationen. Und diese Kurven versuche ich mit meinem Ensemble auch darzustellen. So interessieren mich im Moment nur das Einzelwerk und dessen bestmögliche Darbietung. Wie wenn ich eine Oper zu dirigieren hätte, will ich den Weg des Dramas verstehen und musikalisch nachzeichnen. Natürlich sind vergleichende Analysen und der Versuch, die Bachsche Kompositionsentwicklung im Überblick nachzuvollziehen, hochinteressant. Ich studiere das etwa bei Konrad Küster in seinem Bach-Handbuch. Von einem solchen umfassenden Einblick bin ich momentan aber eher noch entfernt. Ich hoffe, dass ich mit der Zeit das Bachsche Kantatenschaffen stärker im Zusammenhang begreife und damit in die Lage versetzt werde, Vertonungen zu ähnlichen Themen zu vergleichen und kompositorische Mittel quer über das Gesamtwerk zu verfolgen. Ein weites, ein spannendes Feld.